Ost-West-Panikorchester: Stimmt die Kasse unterm Strich?

BRD-Gesundheitssystem ab 1.Januar auch in den neuen Ländern/ Probleme vor allem für die AOK/ Pharmakonzerne weiter gegen Preisabschläge  ■ Von Martina Habersetzer

„Mit der AOK kann man Streß abbauen“, werben die Allgemeinen Ortskrankenkassen. Doch Streß wird die AOK ab 1.Januar selber haben: Dann nämlich werden die bundesdeutschen Krankenkassen auch in den fünf neuen Ländern ihre Arbeit aufnehmen. ArbeiterInnen müssen in die AOK, und die anderen Versicherungspflichtigen, soweit sie sich bislang für keine Kasse entschieden haben, sind dann ebenfalls, so AOK- Chef Detlef Balzer, „im Regelfall automatisch“ in der AOK krankenversichert. Damit übernimmt die AOK auch im Osten mit ihren derzeit 220 Geschäftsstellen die Rolle der Basiskasse.

Laut Einigungsvertrag ist der Beitragssatz im Beitrittsgebiet auf 12,8 Prozent festgeschrieben. Allerdings müssen die Kassen für Ost und West getrennte Haushalte aufstellen. Die Ausgaben werden sich sehr schnell am westlichen Niveau orientieren — demgegenüber stehen vorerst schmale Einnahmen vor allem für die AOK, die vorwiegend die finanzschwachen Mitglieder betreut.

Der Sprecher des Bundesverbandes, Udo Barske, sieht die Lage jedoch zunächst noch gelassen: „Wenn die Bundesregierung für die Kassen keine Anschubfinanzierung vorsieht, sind die Fortschritte in der Leistung eben langsamer.“ Die Einnahmen der Kassen seien jetzt allein von der Entwicklung der Grundlöhne abhängig.

Die Pflegesatzverhandlungen kommen jedoch zügig voran, sagen jedenfalls die Kostenträger. Die Krankenhäuser, in denen bis zum 1. Januar noch keine Vereinbarungen beschlossen worden sind, erhalten bis zum Abschluß der Verträge noch die bisherige Pauschale. Für die Polikliniken wurden ebenfalls pauschale Abschlagszahlungen vereinbart. Bei der Vergütung der niedergelassenen Ärzte haben sich die Kassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung auf einen Punktwert geeinigt, der etwa bei 60 Prozent der Westhonorare liegt.

Es sei „nicht unbedingt zum Schaden der Patienten“, wenn die technische Ausstattung der Praxen nicht ganz so zügig voranschreite wie in den alten Bundesländern, versucht Barske die Not in eine Tugend umzudefinieren. Daß es in einzelnen Praxen und Kliniken Probleme geben könnte, sei klar, doch die medizinische Versorgung sei überall gesichert.

Das sieht der Berliner AOK-Geschäftsführer Herwig Schirmer, dessen Aufgabenfeld sich im nächsten Jahr auch auf den Ostteil der Stadt erstreckt, deutlich anders: Zwar nicht in Berlin, aber in einigen infrastrukturell schlecht versorgten Gebieten der ehemaligen DDR, in der sich Kassen höchst ungern niederlassen würden, fürchte er um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung.

„Finanzpolitisch verheerend“ könnte es zudem sein, wenn viele NeubundesbürgerInnen die Westversorgung beanspruchen, „weil eine Behandlung im Osten nicht möglich ist“ — das läßt der Einigungsvertrag zu. Dann nämlich muß die Rechnung trotz der hohen Preise von der Ost-AOK beglichen werden. Die aber nimmt dafür viel zuwenig ein, weil die Ostlöhne nur 35 Prozent der Westlöhne betragen. Schirmer hält es daher für einen großen Fehler der Bundesregierung, den „Finanzausgleich unter Armen und unter Reichen“ zu trennen, statt die Gesundheitskosten gesamtdeutsch auszugleichen.

Auch der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie hält die die ab dem 1. Januar vollzogene Einheit der Krankenkassen kaum für gesundheitsverträglich. Besonders verschnupft reagieren die Vertreter der Pharmaindustrie auf den Paragraphen 33 des Einigungsvertrages: Dieser schreibt vor, daß Medikamente in den fünf neuen Bundesländern nur mit einem Preisabschlag von 55 Prozent angeboten werden dürfen. Den 26 im Landesverband Ost organisierten Pharmaunternehmen mit rund 15.000 Beschäftigten drohe binnen weniger Wochen der Ruin, sagt Hubertus von Löper, Vorsitzender der Organisation. Denn zu den dann geltenden Preisen könnten sie viele Arzneien weder produzieren noch vertreiben — woraus sich erhebliche Versorgungsprobleme für die Bevölkerung ergäben.

Weil selbst direkt betroffen, haben deshalb die Berlin Chemie AG und das Arzneimittelwerk Dresden in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde erhoben. Doch schon jetzt haben die Unternehmen im Osten angekündigt, ihre Preise kräftig anzuheben, um so den Abschlag zu kompensieren — dies wiederum wäre allerdings für die Kassen fatal, die dann mit noch erheblich höheren Ausgaben rechnen müssen.

Die westlichen Pharmakonzerne interessiert das nicht — und während sie einerseits über das Versorgungsproblem und die dadurch entstehenden „schlimmen Folgen für die Patienten“ lamentieren, wollen zumindest Boehringer Mannheim, Grünentahl, Bayer und ICI Pharma ab dem 1.Januar 1991 schlichtweg keine Medikamente in die fünf neuen Bundesländer liefern. Auch die Apotheken stimmen in den Klagechor ein: Mit dem Abschlag verringere sich ihr Nettogewinn um 60 Prozent, was die Rückzahlung der Kredite für die Privatisierung sehr schwierig mache.

Und tatsächlich: Das Panikorchester ist in Bonn nicht auf taube Ohren gestoßen. Zwar trete die vorgesehene Regelung ab 1.Januar erst einmal in Kraft, sagte Richard Fischels, Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Man sei jedoch „bereits in Gesprächen“, heißt es nur geheimnisvoll. So hatte der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie bereits folgende Idee: Nach den Vorschriften des Einigungsvertrag müßten die Krankenkassen in Ostdeutschland etwa 3,5 Milliarden DM jährlich für Arzneimittel ausgeben. Bei Westpreisen im Osten stiege der Betrag nach Einschätzung der Kassen um 1,5 bis 3 Milliarden DM. Daran, so das Angebot der Pharmalobby, würden sich die Apotheken, der pharmazeutische Großhandel und die pharmazeutische Industrie beteiligen: mit bis zu 900 Millionen DM für die ersten 1,5 Milliarden DM Mehrkosten.

Und darüber hinaus? „Wir sind durchaus für andere Regelungen offen“, erklärte der Sprecher der Bundesbetriebskassen, Baum — „nur unterm Strich muß es stimmen.“ Man werde das „Leistungsgeschehen“ in jedem Falle quartalsweise beobachten — und bei erheblichen Ausuferungen sofort gegenüber den Ärzten sofort intervenieren, denn an die preisgestaltenden Pharmakonzerne kommen die Kassen nicht heran.