Elementares Helfen

■ »Aktion Knabberorgel« — eine Privatinitiative im Rahmen der Rußlandhilfe

Angefangen hatte alles am Frühstückstisch. Inka beschäftigte sich wie immer lustlos mit der tageszeitung, und Thomas nahm gerade eine Schrippe in Angriff. Auf Seite 3 war ein Großbericht über die Rußlandhilfe. Und während Inka erschüttert einem ausgehungerten Russen ins Auge blickte, biß Thomas herzhaft in die Knusperschrippe. »In diesem Moment«, erzählt die gelernte Sozialpädagogin, »wurde es mir schlagartig klar: Wir müssen helfen. So darf es nicht weitergehen.«

Inka und Thomas wohnen in einem schön eingerichteten Haus aus Selbsthilfeprojektzeiten. Auf dem nächsten Plenum brachten sie ihr Anliegen vor. Jenseits aller laufenden Aktionen sollte man auch einen persönlichen Beitrag im großen Hilfsräderwerk leisten. »Es war gar nicht so einfach, damit durchzukommen«, erinnert sich Thomas. Einige waren nämlich der Meinung, daß man doch einfach irgendwo Geld einzahlen könne. Konten gebe es ja genug. »Ein Herz für Rußland« (ARD, ZDF, 'Stern‘, 'Bild‘-Zeitung), »Konvoi für Sibirien« (SFB), »Hilfe für Minsk« ('Zitty‘), »Helft Leningrad« ('Tagesspiegel‘), »Helft den Opfern von Tschernobyl« (taz), »Ein Keks für den Iwan — die Balalaikabrücke nach Kaliningrad« (Radio 100). Außerdem gab es Vorbehalte gegen eine Eigenaktion, weil »doch kaum noch eine Stadt frei sei, die man durchfüttern« könne. Auf diesen Einwand waren Inka und Thomas vorbereitet und konterten mit Tschernigowka. »Auf Tschernigowka war natürlich niemand vorbereitet«, erzählt Inka schmunzelnd. »Tschernigowka war prima geeignet. Erstens kümmerte sich noch niemand um diese Stadt, und zweitens haben die echt viel gelitten unter den Deutschen im Zweiten Weltkrieg.« Vor dieser Überrumplungstaktik mußten die Hilfsgegner kapitulieren.

Schließlich gab es nur noch eine kleine Minderheit von drei BewohnerInnen, die lieber den »tollen Befreiungskampf der PalästinenserInnen« mit einer Spende honorieren wollten. Die renitenten Soli-Kämpfer verließen mit einem kreischenden »Lieber 100 Mark für die Intifada als auch nur einen Groschen für die Perestroika« den Versammlungsraum. Aber Thomas und Inka ging es ja gar nicht um Geld. Etwas Eigenes, ja Persönliches sollte mit auf den langen Weg in die kalte Taiga gegeben werden. Von deutschen Tischen direkt in den russischen Schlund — das war die Grundidee. Und so entschied man sich dafür, Schrippen zu schmieren, die sich die Hungerleider dann quasi sofort zuführen können. »Knabberorgeln statt Stalinorgeln« wurde eine alte Parole der Friedensbewegung variiert.

Gesagt, getan, geschmiert. Die »Aktion Knabberorgel« konnte anlaufen. Am nächsten Morgen schwärmte ein fünfköpfiger Einkaufstrupp in den nächstgelegenen Supermarkt (Aldi) aus. Für scharf kalkulierte 200 DM konnte er 1.200 Schrippen, 10 Kilo Holstensegel- Margarine, 5 Kilo Karwendel- Streichkäse und 5 Kilo Teewurst an Land ziehen. Die Transportkosten verschlangen weitere 150 DM.

»Das Schrippenschmieren hat total Spaß gemacht«, berichtet Inka, »das war fast so schön wie damals, als wir das Haus gemeinsam renoviert haben.« Klar, daß jeder seine Schrippe vom Anfang (aufschneiden) bis zum Ende (zusammenpappen) selbst hergerichtet hat. Auch die Päckchen wurden nicht lieblos im Akkordverfahren gefüllt und geschnürt. JedeR hat das eigene Päckchen mit persönlich gehaltenen Schrippen zusammengestellt und noch einen kleinen Gruß mit reingelegt: »Mit Liebe von Rainer«, »Laßt's Euch schmecken«, »Guten Appetit« und dergleichen mehr.

Ob sie so eine Aktion noch mal auf die Beine stellen würden? Ein spontanes, offenherziges Nicken ist Inkas Antwort. Nachdenklich fügt Thomas hinzu: »Unsere ‘Aktion Knabberorgel‚ — ich glaube, das ist vielleicht auch ein Stück Zivilität.« Volker Gunske