Auch für Deutsche gut

■ Die mutige Aktion der »Knabberorgler« findet viele Nachahmer, aber auch ihre Kritiker

Lange hatte die Berliner Szene nicht mehr soviel Gemeinsamkeit erlebt und doch so viele Lebensphilosophien und Grundsätze ins zivile Bewußtsein der linken Öffentlichkeit geworfen.

Die Initiative des Wohnkollektivs um Inka und Thomas findet immer mehr begeisterte Nachahmer. »Es scheint, als habe das fröhliche Brötchenschmieren für Tschernigowka den lange schlummernden kollektiven Nerv getroffen«, äußert erstaunt ein Kommunenbesucher aus Westdeutschland. »Es ist wie Flugblätterdrucken, nur daß man die Flugblätter essen kann«, freut sich Marc (32) aus der ehemals besetzten Fidicinstraße, und ein erschöpfter Schrippenschmierer, der von einem sorgsam ausgekratzten Becher Blaubandmargarine aufblickt, gerät sogar ins Philosophieren über sein just aufgeschlitztes Brötchen: »Irgendwie symbolisiert doch die Furche quer durch diese Schrippe den ewigen Graben zwischen Armut und Überfluß.« Just jenen Graben aber überwinden die fleißigen Radikalen mit Hilfe handaufgetragener Teewurst und verschiedener Schmelzkäsesorten. Ein subversives Unternehmen, in der Tat. Nicht kleckern, sondern klotzen, war hier der unausgesprochene Konsens unter den verschwörerischen Aufstreichern, und so sehen Nothappen fürs kleine Tschernigowka eher aus wie handfeste Diätbrecher, die nicht nur den Russen beim abendlichen Kerzenlicht, sondern auch jedem Deutschen das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen müssen. »Am liebsten würde ich selber reinbeißen«, gesteht der kleine Tobias, der seit neuestem gleich nach dem Kinderladen voll dabei ist. Auf die Frage, warum denn gerade die Hilfskost für Rußland aus den Regalen seiner Filiale so bevorzugt rekrutiert wird, antwortet Aldi-Filialleiter Berthold Knicke souverän: »Aldi-Produkte sind schon seit jeher ein Dauersymbol für deutsche Markenqualität gewesen. Da, wo's den Deutschen am besten schmeckt, da greifen sie natürlich auch gerne für den bedürftigen Mitmenschen zu, und gerade der Russe soll ja mit eigenem Munde erfahren, daß die Deutschen ihn nur mit dem Besten versorgen.« [Ja, in den drei Geschmacksvarianten Kotz, Würg und Brech! d. säzzer] Doch verwehrt sich Filialleiter Knicke gegen die inzwischen von vielerlei Seite gestellte Forderung nach Spendenrabatt für die uneigennützige Eßhilfe nach drüben. Schon die qualitätsbewußten Massen aus dem Osten, die ehemaligen Bürger der DDR und dann die Polen, hätten erkannt, wie ehrlich der Preis kalkuliert sei. Außerdem seien »gerade Produkte aus dem Hause Albrecht durch ihre, ja, ewige Haltbarkeit wie geschaffen für den langen Weg durch die karge Steppe«.

Doch nicht überall herrscht Einstimmigkeit über die spontane Knabberorgelaktion. Halten die einen diese Aktion schon wegen des Namens für revanchistisch — immerhin sei die Knabberorgel auf die damals so gefürchtete Stalinorgel entstanden —, so vermuten kritische Stimmen von weiter oben auf dem berühmten Weg durch die Instanzen eine selbstsüchtige und dazu fast kostenlose Therapieform, die das Ausmaß der dekadenten Fliegerspiele bei weitem übertreffe. »Solche Aktionen haben zwar in den Zeiten unauffindbar verschwindender Identitäten durchaus ihre Berechtigung, die Pose aber gerät meistens zum grotesken Schaulauf der Gründe, die ein Ich bestätigen sollen und meistens in die unfreiwillige Komik abrutschen«, konkretisiert Prof. Walla von der Sozialwissenschaften an der FU seine Befürchtungen. »Nur noch wandelnde Fragezeichen«, schließt der überzeugte Maoist hart über die wuchernden Helferkommunen in der desolaten Szene.

Aber auch wenn der Dank aus der entfernten Taiga noch fern und das Korkbrett für die Dankespostkarten noch leer ist, wissen die Akkordstreicher jeden Angriff zurückzuschmettern und ihre Freude ganz banal und menschlich auszudrücken: »Schließlich gibt es keine Träume, denen wir noch Leben schulden, dafür aber ein Leben, daß noch viel Spaß haben will.« Und der Spaß dabei mundet den Russen ganz besonders. Peter Niedetzki