Heilige Johanna der Supermärkte

■ Die Kassiererinnen von Aldi sind nicht nur zu Weihnachten ausgelastet/ Für sie wurde der Kaufrausch der Armen zum Alptraum/ Eine Hymne auf die Sklavinnen des freien Marktes

Tagsüber tippen sie sich die Finger wund, abends träumen sie müde vom kleinen Glück. Sie werden in Käfigen gefangengehalten, deren Gitter aus Zahlenketten bestehen. Auch nachts können sie nicht daraus fliehen. Noch im Dunkeln flimmern in ihren Schlafzimmern Dutzende von Nummernkombinationen vor ihren entzündeten Augen herum: 6,98 1,49 0,59 1,29 0,10 2,29 1,39 2,69 0,79. Das macht 17,61, bitte schön, auf 50 Mark gibt es 32,39 wieder zurück. Und von neuem. Und wieder. Und noch mal — die Schlange hat schon morgens kein Ende. Mittags hat sie sich in einen siebenköpfigen Drachen verwandelt — schlägt man ihr ein Haupt ab, wachsen drei neue nach.

Die Kassiererinnen von Aldi sind die Sklavinnen des freien Marktes und die Heldinnen des Wirtschaftswunders zugleich. Sie arbeiten für Hungerlöhne und schieben doch Jahr für Jahr Millionenwerte übers Rollband. Der sagenhafte Ruf dieser erfolgreichsten Lebensmittelkette aller Zeiten reicht bis in die Sowjetunion. Als die Russen in den vergangenen Jahren begannen, ihre Schwarzmärkte in Polen aufzubauen, hat man ihnen von dem billigsten aller Supermärkte erzählt. Fast jedes Kind jenseits der Oder-Neiße- Grenze kennt die vier Buchstaben, die im Osten die große weite Warenwelt bedeuten. ALDI ist überall: auch in Polen, wo selbstgebrannter russischer Wodka gegen eine Flasche Multivitaminsaft getauscht wird.

Die Kassiererinnen von Aldi sind die Fremdenführerinnen des Handelskapitals. Von den Problemen der multikulturellen Gesellschaft verstehen sie mehr als alle linken Ausländerfreunde zusammen. Die kaufen eh meist bei Hertie oder Bolle ein. Die Heiligen Johannas der Supermärkte haben das Volk der DDR willkommen geheißen, als die Mauer fiel. Sie gehören zu den wenigen Einwohnern Berlins, die den polnischen Besucherinnen und Besuchern einen guten Tag und auf Wiedersehen gewünscht haben. Im nächsten Jahr werden sie die Russen begrüßen. Niemand in Deutschland weiß mehr über den sehr spezifischen Geld- Ware-Geld-Kreislauf in der armen Hälfte Europas. Das Päckchen Bohnenkaffee, das sie hier in der Stadt einem Polen verkauft haben, verwandelt sich nach einer langen Reise zur russischen Grenze in pures Gold. Ihre tägliche Fleißarbeit ermöglicht das Überleben unzähliger Familien, die mit Handeln ihr Brot verdienen. Das alles dankt man ihnen nicht. Niemand dankt ihnen etwas. Aber alle verdanken ihnen viel.

Denn Kassiererinnen von Aldi sind die versiertesten Psychologinnen der Stadt. Sie haben Nerven wie Drahtseile. Die brauchen sie auch. Während die ungeduldigen Kunden prompte Bedienung erwarten, verlangen die meist unfreundlichen Filialleiter strikten Gehorsam. Trotz der rund 30prozentigen Umsatzsteigerung in diesem Jahr reagierte der knallhart kalkulierende Konzern nicht mit Neueinstellungen. Für die Beschäftigten wurde das Wirtschaftswunder zum Alptraum: endlose Schlangen schon vor den Eingängen der Geschäfte, Prügeleien in der Kundschaft um Einkaufswagen oder um die letzte Palette Bier. Schließt eine Angestellte während der Öffnungszeit kurz die Kasse, weil sie mal auf Toilette muß, wird sie von Kunden als »blöde Kuh« beschimpft. Falls sie es beim Kassieren versäumt, die Einkaufsbeschränkungen für polnische Besucher — maximal zwei Paletten pro Artikel — zu kontrollieren, droht der Chef mit Repressalien. Die meisten Kassiererinnen blieben trotzdem freundlich. Der Zusammenbruch erfolgt immer erst nach Feierabend.

Für VerkäuferInnen aller Art bedeuten verkaufsoffene Sonnabende und die absatzträchtige Vorweihnachtszeit schlicht Horror. Dabei hat die Vorweihnachtssaison für Aldi- Kassiererinnen in diesem Jahr schon am 1. Januar begonnen. Am 27. Dezember geht es wieder von vorne los. Aus den genannten Gründen verdienen die namenlosen Kassierinnen von Aldi alle Orden dieser Welt. Denn für die Verkäuferinnen der zahllosen No-name-Produkte ist noch immer keine Medaille erfunden worden. Claus Christian Malzahn