„Einfach nur den Saddam-Job hinter uns bringen“

Lagebericht von einer militärischen Monokultur — Auf dem größten Marine-Stützpunkt der Welt, Camp Lejeune in North Carolina, rüsten sich die Elitetruppen der USA für die Schlacht am Golf/ Abschiedsszenen im trauten Familienkreis beim Krabbencocktail/ Farewell in der Oben-ohne-Bar  ■ Aus Camp Lejeune Rolf Paasch

Die Briefkästen an den Straßen von North Carolina zeugen von dem fernen Konflikt. Dort, wo ein Familienmitglied mit der „Operation Wüstenschild“ nach Saudi-Arabien entsandt worden ist, schmückt eine gelbe Rosette die sonst farblosen Postkästen. Östlich des Highway 95, auf der Fahrt durch die oft sumpfige Ebene zur Küste, nimmt die Zahl der gelben Schleifen stetig zu: vor den als Häuser verkleideten „mobile homes“, vor bescheidenen Eigenheimen und heruntergekommenen Holzhütten.

„God Bless the USA“ steht auf der riesigen Reklamefläche an der Einfahrt nach Jacksonville, und auch darunter eine Abbildung des „yellow ribbon“. Eine Stadt erinnert sich an die Abwesenden und würdigt die Abreisenden. 24.000 „Marines“ waren in der vergangenen Woche auf dem großen Exerzierplatz der Militärbasis von Camp Lejeune zur Abschiedsparade angetreten. Rund 1.000 Marinesoldaten werden seitdem täglich eingeschifft oder mit den dickbäuchigen Frachtflugzeugen in den Mittleren Osten ausgeflogen. In Jacksonville, wo 70 Prozent der Bewohner zu einer Soldatenfamilie gehören, wird der Aderlaß mit Schmerz, aber auch mit beherrschtem Stolz hingenommen.

Im „Jacksonville Mall“ bummeln kurzgeschorene Marines zum letzten Mal vor ihrer Abreise durch die überdachten Gänge des örtlichen Einkaufsparadieses. Die Hand der Freundin ein wenig fester gedrückt als sonst, scheinen sie mindestens ebenso nervös wie die Geschäftsinhaber, die sich vor dem wirtschaftlichen Einbruch im Januar fürchten.

Die Schließung von drei Fabriken in den letzten Monaten hat die Küstenregion von North Carolina endgültig in eine militärische Monokultur verwandelt. Wenn Wesley Tanaghan im „New River Barber Shop“ demnächst auch den letzten ins Feld ziehenden Marine für vier Dollar geschoren hat, wird er seinen kleinen Friseursalon erst einmal schließen können. „50.000 Marines“, sagt Jack an seinem Stand mit gravierten „Redwood“-Schildern, „da geht eine ganze Menge Kaufkraft über den Atlantik“. Durch sein neues Rotholzdesign, „Desert Shield 1990“, versucht er den Waffengang an den Golf so gut zu vermarkten, wie es eben geht.

Schräg gegenüber, auf der anderen Seite des künstlichen Springbrunnens mit dem weihnachtlichen Kunstschnee, hat „Waldenbooks“ sein „Saddam Hussein“-Regal vor die Tür gestellt. Und drinnen gibt es für lesewütige Wüstenkrieger weitere fünf Meter Militärliteratur: von Olsons Wörterbuch des Vietnamkrieges bis hin zu Colonel James' Insider Story über die „waghalsige aber tragische Iran Mission“ der Marines unter Präsident Carter. Am Pfeiler daneben hängt eine Karte des Mittleren Ostens, auf der sich die Stellung der Lieben auf der saudi-arabischen Halbinsel lokalisieren läßt. „Das ist schon hart für die Frauen,“ weiß die Angestellte zu berichten. „Viele von den jungen Dingern sind doch so hilflos ohne ihren Ehemann.“

Mit den Marines auf Entdeckungstour

Jason, der mit zwei Freunden vor der Reizwäsche-Boutique Witze reißt, hat die Eheprobleme eines Marines auf eigene Weise gelöst. Er und seine ebenfalls erst 20jährige Ehefrau haben sich seit dem Beginn der Karriere bei den Marines vor zwei Jahren nur zweimal gesehen. Sie wartet daheim in Kentucky, von wo er, der Sohn eines Bergarbeiters, geflohen ist, „um etwas von der Welt zu sehen“. Diese Art von Militärtourismus ist für die Unterprivilegierten der weltweit eingesetzten Elitetruppen durchaus üblich. Auf die Frage, wo er denn ohne die Marines heute wäre, antwortet Jason ohne zu zögern: „Wahrscheinlich im Knast.“

Statt dessen sieht er jetzt der Begegnung mit den britischen „Desert Rats“ und den französischen Elitetruppen in Saudi-Arabien mit Spannung entgegen. „Die können kämpfen wie wir“, sagt er, der wenig von den anderen amerikanischen Waffengattungen hält. Als Beispiel für die Verweichlichung des Heeres führt er Präsident Bushs Frontbesuch in Saudi-Arabien an, bei dem die Soldaten zum Erntedankfest in der Wüste mit Truthahn gefüttert wurden. „Mit den Soldaten ist das wie mit den Tieren“, gibt Jason seine Militärphilosophie zum besten, „du mußt sie kurz halten, damit sie scharf bleiben und besser kämpfen“.

Camp Lejeune, mit 170 Quadratmeilen der größte Marinestützpunkt der Welt, ist in diesen Tagen Umschlagplatz für Menschen und militärisches Material. Aus anderen US- Bundesstaaten eintreffende Reservisteneinheiten werden hier rasch kriegsfertig gemacht, ehe sie zu den nahegelegenen Tiefseehäfen von Wilmington oder Morehead City weiterverfrachtet werden. Das in Camp Lejeune beheimatete 2. Marinekorps wartet auf den Abflug vom Militärflughafen Cherry Point. Transporter und Busse schleichen den ganzen Tag wie zur Rush-hour über das 400 Meilen lange Straßennetz der Basis. Dazwischen joggen Truppeneinheiten in schweren Kampfanzügen oder streben im Marschschritt dem Gebäude mit der NBC-Testanlage für nukleare, biologische und chemische Kampfführung zu. „Diesmal“, so einer der Rekruten, „paßt jeder verdammt gut auf, ob die Gasmaske auch wirklich sitzt“. In einem der 6.500 Gebäude dieser über 100.000 Einwohner zählenden Militärstadt praktiziert die Führung des 2. Bataillons schon den Krieg, für den sich die Rekruten draußen noch rüsten. Auf dem maßstabgetreuen Modell des „Theatre of War“ rückt gerade eine irakische Panzerkolonne vor, die es zu stoppen gilt. Regie führt in diesem simulierten Super-Stratego der Produktionsleiter einer privaten Beratungsfirma, der hier statt der Hollywoodsternchen die Stars der Marines auf die Szene schickt. Gelbe Klötzchen stehen für rasch angelegte Minenfelder, Panzersperren sind rot; und wie im wirklichen Wüstenkampf läuft der Funkverkehr beim Bataillonskommandeur in einem vom Schlachtfeld abgeschirmten Hinterzimmer zusammen. Keine Frage, daß die Truppen Saddam Husseins hier auf dem Reißbrett vernichtend geschlagen werden. Die um den langgezogenen Tisch versammelten 40 Offiziere sind sich ihrer Sache und ihrer Fähigkeiten ganz sicher: „Endlich können wir mal zeigen, wozu wir die ganzen Jahre ausgebildet worden sind. Denn beim Schnelleinsatz in Panama vergangenen Dezember waren die hiesigen Marines nicht dabei. Und während ihres letzten Einsatzes im Libanon gab's bei dem Terroranschlag auf die Marines in Beirut 241 Tote — aber kein Gefecht.“

Bei solch ungezügeltem Kampfeswillen scheinen die beiden Militärpsychologen am hochmodernen Naval Hospital von Camp Lejeune beinahe überflüssig geworden zu sein. Die Zahl der Beratungsfälle, berichten der Stabspsychiater Commander Ross und sein Kollege Gaskin, ist seit der Truppenentsendung an den Golf spürbar zurückgegangen. Im Augenblick scheinen die Marines für das Ausleben von Depressionen und Psychosen keine Zeit zu haben. So kämpfen sich die beiden militärischen Seelenberater derzeit durch isrelische Studien über die psychischen Auswirkungen vergleichbarer Wüstenkriege.

Den beiden Klapsdoktoren werden viele Behandlungsfälle, die mit der Mobilmachung zusammenhängen, von einem weit gespannten Netz selbst organisierter und staatlicher Beratungsdienste abgenommen.

Wohl keine Streitmacht der Welt hat einen so fürsorglichen Apparat wie die amerikanische. Und wohl nirgendwo sonst in den USA werden Rekruten so gehegt und geflegt wie die 190.000 Marines. Rassen und Religionsunterschiede scheinen auf Camp Lejeune keine Rolle zu spielen. Kaplan Douglas Shamburger, mit schwarzer Hautfarbe und jüdischem Namen, lobt die Zusammenarbeit der elf Militärseelsorger auf dem Stützpunkt: „Bei uns gibt es nur eine Religion“, sagt er halb im Scherz, „den militärischen Protestantismus“.

Bilder für Daddy per Wüstenfax an die Front

Vom Kaplan über die Sozialarbeiterinnen bis hin zu den “key wives“ (Schlüsselfrauen) älterer Marines, sorgt eine ganze Armee von Helfern für die zurückgebliebenen Familien, von denen rund 4.000 (das entspricht jeder vierten Familie) auf dem Stützpunkt wohnen. In kindlich naiver Sprache verfaßte Handbücher bringen den Frauen die Notwendigkeit der Trennung im Dienste Amerikas bei. Kinderbücher zum Ausmalen klären den Nachwuchs über Daddy's Mission auf. Auf die Frage, was Vati denn während seiner Abwesenheit tut, finden sich folgende Antworten: „Er trainiert, besucht andere Länder, hilft Menschen in Not. Und dann kommt Papa wieder nach Hause.“

Im Gebäude der „Social Services“ stehen die Kleinen dann Schlange, um Daddy ihre gemalten Grüße oder einfach nur einen Handabdruck per „Wüstenfax“ an die Front zu schicken.

Die Bereitschaft der Familien, dem Militär ihr Familienglück zu opfern, scheint grenzenlos. In dieser militärischen Subkultur von North Carolina kommen Fragen über den Sinn des Truppeneinsatzes gar nicht erst auf. Der immer wieder gehörte Spruch, man könne Saddam nicht einfach die Hälfte aller Weltölreserven kampflos überlassen, reicht hier als Legitimation für die erzwungene Familientrennung völlig aus. Selbst die Tatsache, daß die US-Streitkräfte Alleinerziehende mit Babys oder gar beide Elternteile an den Persischen Golf schicken, wird von den Betroffenen nahezu widerspruchslos hingenommen. Wenn Corporal Jane Kinchen demnächst ihrem Mann an den Golf folgt, dann müßten ihre beiden Kinder — wie vorher notariell geregelt — zu ihrer Schwester nach New Jersey. „Das haben ja alle bei ihrer Verpflichtung gewußt“, verteidigt auch eine Sozialarbeiterin diese oft unmenschliche Mobilisierungspraxis.

Während der Diskussion über solche Fragen spielen die Kinder friedlich mit dem „Beast of Baghdad“, einer als Nadelkissen zu verwendenden Saddam-Puppe. „Ist der nicht süß“, fragt Kelly Nelson, die mit ihren 27 Jahren, zunächst als Tochter und jetzt als Ehefrau eines Marines, nach eigenem Bekunden „die andere Seite der Stützpunktumzäunung von Camp Lejeune“ kaum kennt .

Da haben es die Reservisten der Marines, die in diesen Tagen auf der anderen Seite des Zaunes eingezogen werden, schon schwerer, sich in ihre neue Lage zu fügen. Als die 90 Mitglieder der Einheit D des 2. Bataillons in der vergangenen Woche ihren Heimatstaat Iowa verließen, standen die 2.500 Einwohner der kleinen Stadt Waterloo mit Tränen in den Augen am Flughafen. Für die plötzlich eingezogenen Studenten und Geschäftsleute aus dem „isolationistischen“ Herzen Amerikas ist die Verteidigung von zwei kuwaitischen Inseln und eines Ölfeldes längst nicht so selbstverständlich wie für die Militärfamilien in North Carolina. Denn viele von ihnen hatten sich nur zur Reserve gemeldet, um im Monat 140 Dollar hinzuzuverdienen und vielleicht sogar eine Ausbildung finanziert zu bekommen. Der Reporter des „Waterloo Courier“, der ihnen nach Camp Lejeune gefolgt ist, weiß denn auch von den Zweifeln seiner Lokalmatadoren an der Golfmission zu berichten: „Die meisten haben doch mit so etwas überhaupt nicht gerechnet“.

Mütterliche Ratschläge im Familienrestaurant

Übers Wochenende sind die Motels von Jacksonville mit herangereisten Elternpaaren ausgebucht. In Vierergruppen sitzen sie zum Abendessen an den Tischen von „Fisherman's Wharf“, wo der New River in die breite Lagune fließt: der Marine mit seiner Freundin oder Angetrauten auf der einen und seinen Eltern auf der anderen Seite. Beim Verzehr der Meeresfrüchteplatte werden hier den jungen Kämpfern die letzten elterlichen Ratschläge mit auf den Weg gegeben, so absurd sich das „Paß auf Dich auf!“ in diesem Fall auch anhören mag. Während die jungen Pärchen meist stumm an den Krabbenbeinen nagen, reden sich die zum Abschied angereisten Eltern ihre Sorgen von der Seele. „Unser Paul“, sagt Mutter Dickinson aus Charleston in South Carolina, „der hat schon immer für sein Vaterland kämpfen wollen“. Und zu ihrem Sprößling gewandt: „Weißt du noch, auf der Volksschule in Illinois, wo es damals doch Mode war, gegen den Krieg zu sein?“ Dem Sohn ist das mütterliche Lob etwas peinlich. Er will „einfach nur den Saddam-Job“ hinter sich bringen. Das Schlimmste wäre, lange in der Wüste hocken und warten zu müssen. „Ja, das Warten“, sagt seine Ehefrau, „das ist das Schlimmste“.

Nur Vater Dickinson, der seine Pflicht in Korea abgeleistet hat, meldet vorsichtige Zweifel an. Natürlich müsse Saddam Hussein eine Lektion erteilt werden. Doch wenn er sich abends die Fernsehnachrichten anschaut, sei er sich der Unterstützung des restlichen Amerikas plötzlich nicht mehr ganz so sicher. „Und müssen wir denn überall auf der Welt die Polizei spielen“, fragt er, ohne von seiner Familie eine Antwort zu erwarten.

Die Marines ohne Freundin verbringen die letzten Abende am Jacksonville Boulevard, wo die monotone Straßenfront aus Pfandleihhäusern, Tankstellen, Imbißbuden und Gebrauchtwagenhändlern nur von einigen Oben-Ohne-Bars unterbrochen wird. Aus der „Shipwreck Lounge“ tönen die Klänge von Pink Floyd und Supertramp. Als die Music Box auf Discomusik umschaltet, rücken die jungen Marines die Holzbänke näher ans Podium heran, um den beiden Stripperinnen besser ins Geschlecht sehen zu können. Dennoch vermag das Macho-Spektakel die eher familiäre Atmosphäre in der Bar kaum zu überdecken.

Tina hinter der Theke behandelt die Marines wie einen Haufen ungezogener Bengel. Auch ihr Mann ist nach zehn Jahren bei den Marines nun in Saudi Arabien. Sie wollte, daß er geht. „Wenn er stirbt, dann stirbt er glücklich, für etwas, an das er glaubt“, sagt sie mit dem Ton einer Frau, die sich jederzeit wieder einen neuen Marine besorgen könnte.

Und unter den Jüngsten den Marines, gerade einmal 17 Jahre alt, hat denn da überhaupt keiner Angst? „Das ist wie bei einer großen Party“, erklärt die Barfrau die allgemeine Kriegsbegeisterung ihrer Kundschaft, „da will jeder dabei sein“. Nur fürs Geschäft sei das natürlich schlecht, wenn die nun alle fort müssen. „Aber sie kommen ja wieder zurück“, scheint Tina sich Mut machen zu wollen, „zumindest einige von ihnen“.