Pogromgefahr und offene Türen

■ Die sowjetischen Juden brauchen effektive Hilfe KOMMENTAR

Evian les Bains ist der Name eines luxuriösen Urlaubsortes am Genfer See, mit dem ein jüdisches Trauma für immer verbunden bleibt: Es war im Juli 1938, als die freie Welt auf der internationalen Flüchtlingskonferenz von Evian den Hilferuf der von Hitler bedrohten Juden ausschlug. Von den 32 anwesenden Staaten war außer der Dominikanischen Republik kein anderes Land bereit, den drangsalierten 600.000 Juden Deutschlands und Österreichs Zuflucht zu gewähren. Die kategorische Weigerung, den verfolgten Juden Asyl zu gewähren, wurde für sie zur tödlichen Falle. Unter dem Druck der arabischen Führer wurde von Großbritannien sogar der Fluchtweg nach Palästina blockiert, wo die europäischen Juden der Shoah hätten entgehen können. So ist im historischen Gedächtnis der Judenheit nicht nur das Trauma der nationalsozialistischen Massenvernichtung eingebrannt; erst die verhängnisvolle Indiffernz des Westens angesichts von Auschwitz hat unter Juden das biblische Bewußtsein von neuem geprägt, selbst in der modernen Welt ein begrandmarktes und ausgeschlossenes Volk geblieben zu sein.

Heute, mehr als 50 Jahre nach Evian, ist erneut die weitaus größte jüdische Gemeinschaft Europas auf der Flucht vor Angriffen und Verfolgungen. Durch die zunehmend chaotischen sowjetischen Verhältnisse und den drohenden Zusammenbruch des Sowjetimperiums sehen sich die zwei bis drei Millionen russischen Juden zusehends einer immer gefährlicheren Pogromstimmung gegenüber. Mit jedem Tag verlieren die staatlichen Organe an Autorität und ihre Schutzfunktionen, radikalisieren sich die judenfeindlichen Organisationen. Schon haben 1,2 Millionen Juden die Ausreise nach Israel beantragt. Doch der Türspalt in die Freiheit ist nur wenig geöffnet: Erst 200.000 sowjetische Juden können in diesem Jahr nach Israel einreisen, die USA nehmen 40.000 auf, und auch in der Bundesrepublik Deutschland haben etwas über 2.000 Juden aus der UdSSR Zuflucht gefunden. Derweil brennt den in der Sowjetunion Verbliebenen der Boden unter den Füßen. Sie fürchten, daß das Tor zur Flucht im Zuge der Wirren wieder abgeriegelt werden könnte und sie erneut in einer gefährlichen Falle sitzen. Deshalb ist es die vordringlichste Aufgabe, den sowjetischen Juden eine möglichst schnelle und unbürokratische Ausreise zu ermöglichen. Im Verlaufe der bundesdeutschen Kontroverse über die Aufnahme sowjetischer Juden ist die in die Millionen gehende Zahl von Betroffenen leider völlig außer Sicht gekommen. Hierzulande streitet man sich über vierstellige Aufnahmequoten, während die Anzahl der real Bedrohten siebenstellig ist. Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß die große Masse der sowjetischen Juden derzeit nur in Israel und nicht in Deutschland oder anderswo umstandslos einzubürgern und zu integrieren ist, einmal ganz davon abgesehen, daß nur der geringste Teil der sowjetischen Juden überhaupt nach Deutschland zu emigrieren beabsichtigt.

Um den sowjetischen Juden also einen gangbaren Weg aus ihrer wirklich prekären und lebensbedrohlichen Lage zu bahnen, sollten die bundesdeutschen Ministerpräsidenten weitsichtige und effektive Hilfsmaßnahmen beschließen, anstatt sich allein über magere Aufnahmequoten zu streiten. Dabei sollte nicht nur eine möglichst großzügige Aufnahmeregelung und rasche Einbürgerungs- bzw. Integrationsmaßnahmen beschlossen werden; in Anlehnung an die US-Hilfe stünde es der Bundesrepublik Deutschland gut an, wenn auch sie sich an der Eingliederung der sowjetischen Juden in Israel mit Wohnungsbauhilfen beteiligen würde. Darüber hinaus müßten schon heute zumindest informelle Vorkehrungen für den „worst case“, für den Ausbruch offener antijüdischer Gewaltanwendung und Pogrome in der UdSSR, getroffen werden, um gegebenenfalls wesentlich größere Flüchtlingsgruppen umgehend ausfliegen zu können. Moskau müßte zudem verstärkt dazu gedrängt werden, daß die Ausreise der sowjetischen Juden nach Israel ungehindert und reibungslos vonstatten gehen kann und die antisemitische Volksverhetzung durch die Pamjat-Bewegungen strafrechtlich unterbunden wird.

All jene aber, denen das Schicksal der nach Deutschland geflohenen Sowjetjuden wirklich am Herzen liegt, mögen sich bei den Jüdischen Gemeinden melden, wenn sie ganz konkret eine Wohnung, Arbeit oder Deutschunterricht anzubieten haben. Benny Peiser

Der Autor ist Sprecher der Arbeitsgruppe Antisemitismus in Frankfurt/M.