„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“

Trotz aller Appelle, seinen Rücktritt zu revidieren, gibt es in Moskau kaum Zweifel an der Entschlossenheit Schewardnadses/ Plötzlich entdeckt er bisher nicht gekannte Freunde  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„In der Not erkennt der Christ seine Freunde“, lautet ein durch die jüngste historische Erfahrung bewährtes Sprichwort der russisch-orthodoxen Kirche. Erleichtert stellte die sowjetische demokratische Öffentlichkeit gestern fest, daß Eduard Schewardnadse, der auf der Regierungsbank ein wenig undurchsichtig geworden war, noch immer zu seinen alten Prinzipien hält, daß er den für einen Georgier recht ungewöhnlichen Ruf der Unbestechlichkeit noch immer rechtfertigt.

Schewardnadse, der als Parteichef in seiner Heimatrepublik eisern mit der Mafia aufräumte und dort mindestens zweimal nur durch Zufall Anschlägen auf sein Leben entkam, ist gewiß kein furchtsamer Mann. Und seine Entscheidung wird in diesen Kreisen als mutiger Schritt der vielleicht einzigen Persönlichkeit interpretiert, deren warnender Ruf angesichts der anrollenden reaktionären Welle noch aus dem Land in die Welt dringen kann — als Entscheidung des noch amtierenden Außenministers, weder in diesem Amt noch in dem für ihn prognostizierten Amt des Vizepräsidenten eine Innenpolitik zu decken, die zum Bürgerkrieg führt. „Schewardnadse macht das Spiel nicht mehr mit“, lautet dann auch die ganzseitige Balkenüberschrift einer Moskauer Tageszeitung.

Angesichts der sich wie selbstverständlich vollziehenden Selbstentmachtung des Parlamentes, des von Gorbatschow angekündigten Streikverbotes und der Wiedereröffnung der bisher im Lande geschlossenen umweltschädigenden Fabriken hatten die Abgeordneten der überregionalen Gruppe die ersten Sitzungstage im Kongreß der Volksdeputierten wie gelähmt verbracht. Unmittelbar nach der emotionalen Katharsis am Donnerstag mittag fanden viele ihre Stimme wieder, ja, auch Schewardnadse selbst konnte jetzt Freunde erkennen, von deren Existenz er bislang womöglich überhaupt nichts gewußt hatte.

Tief bewegt versicherte ihm der Vertreter des Verbandes der Afghanistan-Veteranen, Adschijew, seine Solidarität: „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein... Eduard Ambrosiewitsch, die Afghanistan-Veteranen werden ihnen helfen!“ Gegen die Vertreter der Gruppe „Sojus“, in der die Konservativen zusammengefaßt sind, äußerte Adschijew: „Noch keiner dieser Obersten hat je einen Schützengraben von innen gesehen.“ Scherzhaft übertönte der belorussische Schriftsteller Ales Adamowitsch das Getümmel im Saale: Er müsse Schewardnadse eine „Rüge“ aussprechen: Als dieser mit Gorbatschow eine neue Politk begann, habe er doch wissen müssen, mit was für einem „Geschmeiß“ er es zu tun bekommen werde: „Wie kann man sich denn von Obersten beleidigt fühlen, wenn man genau weiß, daß so ein Oberst auf Befehl eines beliebigen Generals sogar bereit ist, seine eigene Mutter zu beleidigen?“

Anschließend bekam auch Gorbatschow eine Rüge ab: „Solche Leute wie Schewardnadse zu verlieren bedeutet, daß der Präsident nur noch von Uniformen umgeben ist und die Rücken und Köpfe von Generälen und Obersten zu sehen bekommt. Sie werden den Präsidenten als Geisel nehmen. Wir waren so froh, daß Gorbatschow als bisher einziger Führer unseres Landes sich nicht mit Blut befleckt hat, und es wäre schön, wenn es so bliebe. Wenn aber diese Leute die Oberhand gewinnen, werden sie es dazu kommen lassen.“ Wenn es dazu käme, und das sei nicht auszuschließen, dann werde die neue europäische Friedensordnung auch gefährdet, fügte eine Abgeordnete hinzu.

Der Sprecher der Sojus-Fraktion, Oberst Alsnis, begrüßte unterdessen in einem Interview den Rücktritt des noch amtierenden Außenministers und sagte, er werde bei der für die nächste Sitzungsperiode des Obersten Sowjets vorgesehenen Abstimmung dafür stimmen. Er warf Schewardnadse vor, mit der Anerkennung der Existenz des Ribbentrop- Molotow-Paktes Fehler begangen zu haben, außerdem seien der Rückzug der Truppen aus Osteuropa und die Unterzeichnung des Vertrages über die deutsche Wiedervereinigung allzu übereilt und undurchdacht erfolgt.