Du grünst nicht mehr zur Sommerzeit...

■ Jeder vierte Baum im EG-Bereich ist krank/ In Teilen Osteuropas bis zu 70 Prozent Schäden

Brüssel (taz) — Alle Jahre wieder ausgerechnet zur Weihnachtszeit, wenn sich Millionen Menschen tote Bäume ins Wohnzimmer stellen, gibt es in Europa den Brauch, Waldschadensberichte zu veröffentlichen. Diese Woche stellte die EG-Kommission einen dicken Wälzer vor, außerdem trafen sich Waldexperten aus ganz Europa in Straßburg. Resultat: Während die EG-Kommission für ihren Teil Europas eine Quote von knapp 10 Prozent stark geschädigter Bäume errechnete, soll in Polen rund ein Drittel der Wälder ernsthaft gefährdet sein. In Weißrußland und in der Tschechoslowakei ist die Situation noch dramatischer: Sieben von zehn Bäumen siechen dort ihrem Ende entgegen.

Auch in der Gemeinschaft sei ein „beträchtlicher Teil des Waldes gefährdet“ und der Zustand bestimmter Bäume habe sich erheblich verschlechtert, heißt es in dem „Wald- Gesundheitsbericht 89“ der EG- Verwaltung. 16 Prozent der Bäume sollen leicht geschädigt sein, 9,9 mittel bis stark. Zu letzteren werden die Bäume gerechnet, die bereits mehr als ein Viertel ihres Laub- oder Nadelwerks verloren haben.

Den Ex-Abgeordneten und Waldexperten der Grünen, Wilhelm Knabe, überraschen diese Zahlen. Während ihm das Bundestagsräumkommando den Schreibtisch unter den Fingern wegzieht, sagt er: „Dies ist nur die Spitze des Eisbergs.“ In dem Teil des EG-Berichtes über den deutschen Wald sei beispielsweise von 16 Prozent schwer und 37 Prozent leichter geschädigten Bäumen die Rede. Seiner Meinung nach gehe es mit den urdeutschen Bäumen (Buchen und Eichen) weiterhin bergab.

Immerhin sei es positiv, so Knabe, daß es den EG-Forstverwaltungen mit dem Waldgesundheitsbericht 89 zum ersten Mal gelungen ist, sich auf ein gemeinsames Meßverfahren zu einigen. Begutachtet wird dabei das Ausmaß der Entblätterung und der Verfärbung der Bäume. Dazu ist es allerdings nicht nötig, daß die EG-Förster jeden einzelnen Baum in den Waldgebieten der Gemeinschaft in Augenschein nehmen, die zusammengefaßt etwa ganz Frankreich einnehmen würden. Statt dessen erfassen sie mit Hilfe eines über die europäische Landkarte geworfenen Koordinatennetzes einzelne Bäume — insgesamt kamen sie dabei auf die stattliche Anzahl von 47.772. Die am stärksten geschädigten Waldgebiete fanden die Waldhüter in Schottland, im Süden der Bundesrepublik und Frankreichs, im Nordwesten Italiens und zum Teil auch in Griechenland. Gründe für den Zustand des europäischen Waldes konnten die EG-Förster nur vage angeben: „Es wird angenommen, daß Luftverschmutzung neben Wetter, Insekten, Pilzen und Waldfeuern eine wichtige Rolle spielt beim Niedergang der Wälder.“ Für eine genauere Erklärung verweisen die Waldhüter auf die nationalen Waldzustandsberichte. Aus einer Stellungnahme der Grünen zur deutschen Waldschadensbilanz 1990 geht hervor, daß im Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik 56 Prozent der Bäume Schäden aufwiesen, im Bereich der ostdeutschen Länder nur noch 4 von 100 Bäumen als gesund zu bezeichnen waren. Die Hauptverursacher sind im Osten die Braunkohlekraftwerke mit einem jährlichen Schwefeldioxidausstoß von 5 Millionen Tonnen; im Westen betrugen die Emissionen „nur“ rund eine Million Tonnen. Statt dessen sorgen 30 Millionen AutofahrerInnen für eine ständige Zunahme der extrem giftigen Stickoxide.

Auf dem Treffen in Straßburg forderten die Vertreter der mittelosteuropäischen Länder Hilfe vom Westen für ihre schwer geschädigten Wälder. Mit modernen Rauchentgiftungsanlagen für ihre Kraftwerke und Industrieschlote soll dem Waldsterben eine Ende gemacht werden. Dabei übersehen sie, daß auch westliches Kraftwerks-Know-how das Problem nicht wirklich lösen kann, trägt doch gerade der Autoverkehr einen großen Teil zu der Luftverschmutzung bei. Die explosionsartige Motorisierung Mittelosteuropas wird die positiven Effekte verbesserter Kraftwerksfilter wieder zunichte machen. Michael Bullard/bel