ESSAYS
: Kehrseite der Moderne: Die Religionen am Ende des Saeculum

Die „Illusionen des Fortschritts“ (Georges Sorel), die für die weltlichen Religionen dieses Jahrhunderts – Liberalismus, Faschismus, Kommunismus – bestimmend waren, haben sich im Revolutionsjahr 1989 verabschiedet: Ein anthropologisch pessimistischer Minimalismus der Menschenrechte hat sich da in die Geschichte zurückgemeldet, vereint mit verzweifelten Hoffnungen auf die Freiheit und mit Angst vor der Zukunft. Diese Angst ist aber auch Missionsterrain für Propheten und Imame. Wie steht's um die Rückehr ds Religiösen?  ■ VON OTTO KALLSCHEUER

Die zeitliche Überlagerung vom Ende des Kalten Krieges in Europa mit dem kriegerischen Ausbruch der Krise im Nahen Osten, in der ein Diktator das Erbe der (ursprünglich laizistisch- nationalistischen) panarabischen Bewegung mit der Rhetorik des islamischen „Heiligen Krieges“ verbindet, signalisiert eine Rückkehr des Religiösen in die Welt(innen)politik. Kaum hatte der freie Westen sich von seinem Sieg über den Kommunismus erholt, da bietet ihm der Golfkonflikt Futter für alt-neue Feindbilder: Wird jetzt der islamische Fundamentalismus zum neuen „Reich des Bösen“ für die Demokratien der ersten Welt? Die öffentliche Meinung der europäischen Länder hat sich allerdings zu schnell daran gewöhnt, den integristischen Splitter im Auge des arabischen Bruders wahrzunehmen – den fundamentalistischen Balken in der christlichen Weltsicht blendet sie gerne aus.

Hinter dem durchgerosteten Eisernen Vorhang des ersten atheistischen Staatensystems der Weltgeschichte treten in den krisengeschüttelten Übergangsregimes zwischen Staatssozialismus und mehr (Ungarn) oder weniger (Rumänien) demokratischen Regierungsformen die christlichen Kirchen als einzig halbwegs stabile Institutionen vor die erstaunten Augen des westlichen Fernsehpublikums. Die zivile Gesellschaft – wie der Sammelbegriff für das antitotalitäre Programm der meisten Oppositionsbewegungen in den Ostblockländern lautete – erfordert nämlich nicht nur soziale Interessen- und Verteidigungsorganisationen, sondern auch eine Institutionalisierung der politischen Konkurrenz, mit anderen Worten ein einigermaßen stabiles Parteiensystem, das alleine die Dialektik von Regierung und Opposition tragen kann. Für parteipolitische Lagerbildung hingegen fehl(t)en in den osteuropäischen Ländern bisher die elementarsten Voraussetzungen.

Die mehr (Katholiken) oder weniger (Orthodoxe) verfolgten kirchlichen Institutionen haben in der jüngsten Vergangenheit Osteuropas zumeist eine Doppelrolle erfüllt: sowohl Lückenbüßer und Auffangbecken für zivile politische Assoziationen zu sein als auch den Anspruch einer totalen ideologischen Alternative zum totalitären System zu verkörpern. Da sich bisher unter den neuen Bedingungen der Demokratie ein offenes Parteiensystem noch nicht etablieren konnte, kann nun der „lebensweltliche“ Organisationsvorsprung der Kirchen durchaus auch zum Hindernis für die Demokratie werden. In Gesellschaften, deren „politischer Markt“ nicht funktioniert, bildet sich ein politischer Schwarzmarkt; das war in Polen nicht anders als in den lateinamerikanischen Diktaturen, die ja die Wiege der politischen „Theologie der Befreiung“ waren. Problematisch für die Freiheit des Christenmenschen wird die Sache nur, wenn darob auch die Politik schwarz wird, wenn – bei den Polen wie bei den Latinos – aus dieser politisch-sozialen Not eine theologische Tugend gemacht wird.

„Das Verschwinden jeglicher Trennung zwischen den Sphären des Heiligen und des Profanen“ – so schrieb Adam Michnik schon 1986 im Gefängnis – war ein Charakteristikum der osteuropäischen Systeme. Strukturell waren diese atheistischen Staatsreligionen durchaus, wie sich der britische Anthropologe Ernest Gellner ausdrückt, ein dem Caesaropapismus analoges Phänomen: Das monokratische Regime des Parteistaats hat mit der Unterdrückung der religiösen Freiheiten selbst zur Vermengung von religiöser und politischer Sphäre beigetragen. Nunmehr aber ist der sakrale Ort der kommunistischen Macht verwaist. Um so höher muß da die Versuchung werden, ihn in postkommunistischen Regimes durch alte Symbole wieder zu besetzen: die Krone auf dem Haupte des polnischen Adlers und die Madonna von Tschenstochau am Revers des polnischen Populisten Walesa.

Nach dem Ende der ständischen Hierarchie der Organisationsgesellschaft wird zudem auch in den osteuropäischen Ländern die „soziale Entropie“ (Ernest Gellner) um sich greifen: der symbolische und soziale Strukturmangel von Marktgesellschaften – in denen die unvermeidliche ökonomische „Deregulierung“ des bürokratischen Systems der Wirtschaftslenkung einhergehen wird mit einer sozialen Anonymisierung und schockartig erlebten Individualisierung der in die Freiheit entlassenen Subjekte.

Schockartig erlebte Strukturbrüche waren in der europäischen Geschichte häufig Anlaß für totalitäre Gefahren – von den chiliastischen Bewegungen des europäischen Mittelalters bis zum nationalistischen Zeitalter des 19. und 20. Jahrhunderts. Ralf Dahrendorf spricht für die Länder des ehemaligen Ostblocks schon von einer neuen faschistischen Gefahr, der „Verbindung einer nostalgischen Ideologie der Gemeinschaft, die scharfe Grenzen zieht zwischen denen, die dazugehören, und denen, die draußen bleiben“, mit cäsaristisch-populistischen Rettern des Vaterlandes.

Die Kirchen – als die einzigen Institutionen im Ostblock, die in der zweiten Hälfte des Saeculum das Terrain sozialer Kommunikation „besetzt“ hatten – werden jetzt zum Ort des Kampfs der nationalen Kräfte, des Kampfs um die Besetzung des „symbolischen Mehrwerts“ Nation: Während sich die orthodoxen Staatskirchen, die sich in der Vergangenheit mit dem alten Regime (etwa in Rumänien) arrangiert hatten, heute beeilen, auf den nationalistischen Zug aufzuspringen, sind in den baltischen Republiken oder in der Ukraine die unter Stalin verfolgten Katholiken bzw. katholisch Unierten zu Bannerträgern der nationalen Selbstbestimmung geworden: die nationale Bewegung wird selbst zur Partei im Kirchenkampf. Auch in Polen – wo es seit der Niederschlagung des Aufstands von 1831 eine katholisch-mystische Tradition des politischen Messianismus gibt –, lassen sich bis in die Äußerungen von Primas Glemp oder Lech Walesa neuralgische Terrains der Begegnung von nationaler Selbstbehauptung und katholischer Sendung feststellen, vor denen jüngst etwa der selbst zum Gläubigen gewandelte Agnostiker Jacek Kuron gewarnt hat: „Die Religion soll den Menschen Gott näherbringen – eine politisch instrumentalisierte Religion negiert sich also selbst.“

Der Schock des Eintritts in die westlich bestimmte Weltge- sellschaft läßt jedoch nicht allein in den ehemals sowjetisch beherrschten Staaten die Suche nach einem göttlich bestimmten Heil wieder entstehen. Denn: Je offener der Horizont der Weltwahrnehmung wird – „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich“, sagte zu Beginn der Neuzeit der unglückliche Rationalist Blaise Pascal –, um so unerfüllbarer wird der Wunsch, personale Identität und kollektive Geborgenheit (“religio“) im wissenschaftlich-technischen Weltbild wiederzufinden.

Der religiöse „Blick zurück nach vorn“, den wir liberalen Agnostiker gerne als vormodern-hinterwäldlerisch abtun möchten, erweist sich im neuen Jahrtausend, das die „one world“ zum ersten Mal zur Welterfahrung der Mehrheit der auf dem Globus lebenden Menschen werden läßt, als die andere Seite der Moderne: Er ist die Re-Aktion (im Wortsinne) der zwangsmodernisierten Massen auf die Zerstörung ihres Kosmos, auf die moderne Erosion von sozialem Sinn.

„Fundamentalismus“ im allgemeinsten Verstande – d.h. als Rückkehr zu vergessenen oder vermeintlich säkularisierten Grundlagen des religiösen Credos der jeweiligen Gemeinschaft – ist also kein vormodernes Relikt, sondern geradezu ein Produkt der modernen Welt(markt)gesellschaft: einer Welt aus Flüchtlingen und Trutzfesten, von Wanderern und Wagenburgen. Es ist dies ein altes Paradox der Reformation und der Dialektik der Aufklärung: Eine feste Burg in GOTT zu finden (wie auch immer ER heiße) wird zunehmend unmöglicher, und eben darum drängen sich die Verfolgten verzweifelt am Burgtor – während im Inneren der Feste die aus der protestantischen Reform erwachsene Freiheitsreligion der Moderne bereits dem postmodernen Nihilismus, dem utilitaristischen Kalkül und dem zynischen Eigennutz Platz machen mußte.

Je mobiler die Menschen und Waren werden, je weiter die eigene Lebensgeschichte ihren festen Boden verliert, um so drängender wird der Ruf der solcherart Freigesetzten nach einem transzendenten festen Halt. Unruhig ist unser Herz, bis es denn ruhet in DIR. In der Welt von morgen aber werden immer weniger Menschen auf der Suche nach „Brot, Land und Frieden“ (Lenin) Ruhe finden, da sie ihre Identitäten immer weniger auf festen territorialen Grund bauen können. Je beschleunigter Nachrichten, finanzielle Transaktionen und technologische Transformationen sich bewegen, um so unmöglicher wird es, auf der Höhe der Zeit sich nicht zu verlieren. Die famose „Zwei-Drittel- Gesellschaft“, die im Weltmaßstabe wohl eher ein Verhältnis von einem zu neun Zehnteln bedeutet, ist auch eine „Zwei-Geschwindigkeits-Gesellschaft“: Die informationell herrschende Klasse der Broker, Ingenieure, Journalisten und Intellektuellen bewegen sich auf der Ebene der rein prozessualen „Weltzeit“, während die „proles“ (George Orwell) – aber auch die Massen der weltweit im agro-alimentaren, häufig noch Subsistenz-Sektor verbliebenen Verdammten dieser Erde – noch aus dem Erfahrungsraum lebens- und generationsgeschichtlich überschaubarer Zeithorizonte kommen.

„Wenn die Gegenwart grausam ist und die Zukunft bedrohlich“ – heißt es in Rachid Mimounis Tombza – „klammert man sich voller Hoffnung an die messianischen Verkündungen neuer Zeiten.“ Der Kontakt mit weltzeitlich induzierten Kriegen und Krisen, der Hunger nach geistiger und leiblicher Nahrung läßt den Menschen, die aus traditionalen (eher rückwärtsgewandten) Religionsgemeinschaften kommen, – wie z.B. der „Gegenwart der lebenden Toten“ (John S. Mbiti): der ans heimische Territorium gebundenen Stammesgeister in den klassischen Religionen Schwarzafrikas – die Zukunft zum Schock werden. Der sinnlosen Zukunft begegnen die in die am Tropf der Weltzeit (und des Währungsfonds) hängenden Boomtowns gespülten Entwurzelten mit Angst vor der Gegenwart – auf der Suche nach einem Wegweiser. Und in Afrika treffen sie ihn in Gestalt protestantischer Erweckungsprediger oder muslimischer Radikaler: d.h. Verkünder von Hochreligionen, die eine – irdische oder seelische – Rationalisierung gegenwärtigen Elends zur Heilsgeschichte erlauben, ohne die Gläubigen beim Marsch durch die Wüste völlig alleine zu lassen. Hier liegt auch der Weinberg für die erfolgreiche Mission der Baptisten, Adventisten und Methodisten: in Afrika ebenso wie in Mittel- und Lateinamerika sowie neuerlich in Südosteuropa.

Schließlich sind die „christliche Wiedergeburt“ der osteuropäischen Nationen einerseits und der „islamische Fundamentalismus“ andererseits kein bloßes Außenproblem für die Länder Westeuropas mehr. Die Wanderungsbewegungen aus den ökologischen und ökonomischen Krisengebieten, die Immigranten und Flüchtlinge kommen nicht als „kontextfreie“ Mitmenschen: Sie wollen Brot und Bürgerrechte – aber sie bedürfen, da ja der Mensch vom Brote allein nicht lebt, auch der Religionsfreiheit. Sie brauchen in ihrer neuen Welt Moscheen und Kultstätten, Lehrhäuser und Tempel.

Das zivile Zusammenleben mit fremden religiösen Lebensformen wird – und zwar nicht erst in der Frage schleiertragender Töchter des Propheten, sondern bereits beim fundamentalistisch-katholischen Kampf gegen die Straffreiheit für Abtreibung – zum Gegenstand europäischer Innenpolitik, zum Prüfstein für unsere aufgeklärte Toleranz oder christliche Nächstenliebe: In Gestalt der Völkerwanderungen aus dem Osten und dem submediterranen Süden treten Weltreligionen in „unseren“ öffentlichen Raum, von deren Existenz wir bisher allenfalls aus Abenteuerromanen wußten. Dies gilt nicht nur für den Islamismus arabischer und türkischer Immigranten, sondern auch für die Christen arabischer Nation, die auch vor dem islamischen Wiedererwachen fliehen. Vor kurzem wurde die erste koptische Kirche in Deutschland geweiht. Oder es gilt für die Juden, die in Osteuropa den wiedererwachenden christlichen Antisemitismus fliehen müssen.

Eine der Wurzeln der zweihundert Jahre alten „Bill of Rights“ (1791) der Vereinigten Staaten von Amerika liegt in der Gewissens- und Religionsfreiheit – entstanden aus der Flucht vieler Einwanderer vor religiöser Verfolgung in Europa. Die religiöse Toleranz unter dem gemeinsamen Dach der zivilen Republik Europa wird nicht nur die Probe aufs Exempel sein, wie weit wir Europäer die Lehren der Aufklärung wahrhaft ernst nehmen. Sie ist auch der wohl einzige Weg, mit vor- und antimodernen „Fundamentalismen“ demokratisch fertigzuwerden, d.h. sie auf den Weg ihrer eigenen Reformation zu bringen. Ein antiislamischer Fundamentalismus des christlich-liberalen Abendlandes würde hingegen im Inneren Europas neue Religionskriege schüren – nach außen würde er die alte byzantinische Mauer im Süden wiederaufbauen.

Gottlob ist jedoch im Universalismus der christlichen Heilsbotschaft auch ein Gegengift zu nationalen oder ideologischen „politischen Theologien“ angelegt, welches der theologischen Moderne des zweiten Vaticanum ebenso entspricht wie der auch in den mittel- (weniger den südost-)europäischen Christenheiten zunehmend wahrnehmbaren Tendenzen von „postmoderner“ Gemeindebildung (Harvey Cox), hin zu einer Subjektivierung, Verinnerlichung religiöser Erfahrung.

Der jede konkrete politische Gemeinschaft, jede Nation übersteigende Verweis auf „den Gedanken des Unbedingten“ (Robert Spaemann) als fundamentum des christlichen Verständnisses von Menschenwürde (d.h. als metaphysische Begründung der ansonsten nur von kontingenten Konventionen abhängigen Menschenrechte) stand auch am Anfang der Charta 77: In der existentialistischen Wiederentdeckung der platonisch-christlichen „Seele“, in der der Philosoph Jan Patocka die einzige Alternative zum nationalistischen Zerfall Europas und zum nihilistischen Untergang der europäischen Zivilisation erblickte: „die Seele als Teil dessen in uns, was in Beziehung steht zur unvergänglichen, nie vergehen könnenden Komponente des Universums, die die Wahrheit und das In-der-Wahrheit- Sein ermöglicht“.

Die Trennung dessen, was Cäsars, von dem, was Gottes ist (Matth. 22.21) – der irdischen Staaten von der civitas Dei (Augustinus) – verbietet jede nationale oder sozialpolitische Heilslehre: „Kein gesellschaftliches Projekt wird jemals das Reich Gottes, d.h. die endzeitliche Vollkommenheit errichten können. Die politischen Messianismen münden meist in die schlimmsten Tyranneien“ (Johannes Paul II).

Otto Kallscheuer lebt als Publizist, Philosoph und bibelfester Politologe in Berlin.