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LEBENSWELT UND TECHNIKKultur und Kommerz global vernetzt

Die Mediengiganten des Nordens überziehen die Welt mit einem Informations- und Kommunikationsgeflecht, das auch in der Dritten Welt kulturdominierend wirkt. Durch das Zusammenwachsen von EDV und Telekommunikation werden alle Lebensbereiche in atemberaubendem Tempo durchdrungen. Das Verhältnis zwischen arm und reich definiert sich neu: Nur wer über Informationen verfügt, gehört zu den Privilegierten.  ■ VON JÖRG BECKER

Zeitungen produzieren ebenso wie andere Medien (Printmedien, elektronische Medien und elektronische Speichermedien) Inhalte und Botschaften, also kulturelle Wertmuster. Die soziale Organisation für die Herstellung, den Vertrieb und die Rezeption medial vermittelter Kultur gehorcht in steigendem Maße ökonomischen und technologischen Bedingungen und Kalkülen. So wird zum Beispiel der hinter den Zeitungen stehende Weltnachrichtenmarkt nach wie vor von vier international tätigen Nachrichtenagenturen dominiert:

– Agence France Press (AFP), Frankreich;

– Reuters, Großbritannien;

– United Press International (UPI)

und Associated Press (AP), beide USA.

Die tägliche Wortproduktion dieser Agenturen belief sich 1988 auf 17 Millionen Wörter bei AP, 14 Millionen Wörter bei UPI, 1 Million bei AFP und 1,5 Millionen bei Reuters. Gegenüber dieser kombinierten Wortproduktion der „großen vier“ von rund 34 Millionen Wörtern täglich produzieren die nationalen Agenturen der BRD, Italiens, Spaniens, Jugoslawiens und der Dritte-Welt-Nachrichtenagentur Inter-Press-Service in Rom (IPS) zusammen genommen täglich lediglich rund eine Million Wörter. Der Nachrichtenpool der Blockfreien-Bewegung produziert täglich nur 100.000 Wörter, die Panafrikanische Nachrichtenagentur (PANA) nur 20.000 und die Gulf News Agency nur 18.000 Wörter pro Tag, während UPI vor wenigen Jahren fast seinen Konkurs anmelden mußte, IPS gegenwärtig um sein Überleben kämpft, die Reuters-Holding seit langem ihren Schwerpunkt von der Nachrichtenproduktion auf elektronische Börseninformationen verlagert hat. Während die sowjetische Nachrichtenagentur TASS (Tagesproduktion: vier Millionen Wörter), die an der Zahl ihrer Auslandsbüros und Zeitungskunden sowieso nie ernsthaft mit den „großen vier“ konkurrieren konnte, angesichts einer bevorstehenden Privatisierung in ihrer internationalen Bedeutung eher ab- als zunehmen dürfte, hat sich die weltweit dominierende Position des Marktführers AP in den letzten Jahren stabilisiert. AP hat in 64 Ländern 180 eigene Büros und Korrespondenten und rund 3.000 journalistische und technische Mitarbeiter.

Zahlreiche Studien über die weltweite Stellung von Nachrichtenagenturen lassen folgende Ergebnisse als gesichert erscheinen:

– die von den Nachrichtenagenturen produzierten Inhalte

sind euro-zentrisch (und latent rassistisch);

– die Berichterstattung über die Dritte Welt ist stark katastro-

phenorientiert;

– Nachrichtenagenturen in aller Welt lehnen sich eng an Re-

gierungsverlautbarungen an;

– ihre Berichterstattung richtet sich nach den Bedürfnissen

der politischen Eliten;

– die Berichterstattung richtet sich meistens am Prinzip der

„spot news“ aus, strukturelle Nachrichten sind selten;

– nicht nur kulturell, sondern auch technisch (Telexverbin-

dungen), ideologisch (Ausbildung und Training) und öko-

nomisch (kleine Binnenmärkte) sind die Nachrichten-

agenturen der Dritten Welt von denen der Zentren in ei-

nem einseitigen Informationsfluß abhängig. Ein horizon-

taler Informationsaustausch der Peripherien untereinan-

der ist nur schwach ausgebaut.

Globale Informationsrevolution macht Medienpolitik zum alten Hut

Die seit Anfang der 70er Jahre zu beobachtende „Informationsrevolution“ gründet in zwei Zusammenhängen. Einerseits ist sie Ausdruck einer weltweiten Reorganisation von Arbeit. Die Kontrolle über die Ressource Information (Werbung, Marketing, Planung, Steuerung, Vertrieb und Verteilung) wird zur entscheidenden Basis von Produktionsentscheidungen. Andererseits sind neue Formen der weltweiten Arbeitsteilung nur möglich, weil die technische Konvergenz zwischen Datenverarbeitung und Telekommunikation (Informatik+Telekommunikation=Telematik) völlig neuartige Anwendungsmöglichkeiten der Informationsübertragung, –speicherung und –verarbeitung zuläßt. Während sich Anwendungsvielfalt und –qualität im Umgang mit der Ressource fast unerschöpflich ausdifferenzieren, deutet sich mit einer breitbandigen ISDN-Vernetzung (Integrated Services Digital Network) ein globales und einziges Informationsnetz an, das keine Unterschiede mehr kennt zwischen Massenkommunikation und wissenschaftlich-technischer Kommunikation, zwischen individuell steuerbarer und passiv- rezeptiver Kommunikation, zwischen Print- und elektronischen Medien, zwischen akustischer und optischer Signalübertragung, zwischen Informationsübertragung, –speicherung und –verarbeitung. Diese Informatisierung von Gesellschaft zeitigt weitere, weitreichende Folgen. Sie hebt die Ungleichzeitigkeit und Verschiedenartigkeit von Zeit, Raum und Ort auf, sie vollzieht sich im globalen Maßstab und entwickelt aufgrund der gerade in der datenverarbeitenden und elektronischen Industrie immer kleiner werdenden Produktionszyklen eine immer schnellere und umfassendere soziale Diffusionsdynamik, die alle Bereiche von Kapital, Arbeit und privater Lebenswelt erfassen wird. Aus der „guten alten“ Medienpolitik wurde deswegen inzwischen eine Politik der Informatisierung, das heißt die am Ausgang des 20. Jahrhunderts stehende wichtigste Form von Infrastrukturpolitik.

Eine Internationalisierung läßt sich von Informatisierung nicht loslösen. Da Informationsproduktion keine „finiten“ Güter hervorbringt, da sie außerdem ein öffentliches Gut (commons) ist, sind Informationen nicht verknappbar und einzugrenzen, sie sind Ursprung jeglicher Internationalisierung und jeglicher interkultureller Kontakte. Solche Internationalisierungsprozesse werden in Zukunft mit atemberaubender Geschwindigkeit zunehmen.

Die EG, USA und Japan als Informationsmonopolisten

Der ökonomische Umfang der gesamten weltweiten Informations- und Kommunikationsindustrie ist bei weitem höher als allgemein angenommen. 1986 lag der Umsatz dieser Industrien bei 1.100 Milliarden Dollar; das entspricht rund 10 Prozent der globalen industriellen Produktion. Im Zentrum aller Informations- und Kommunikationsindustrien stehen die drei Großmärkte USA, Japan und die EG. Während diese drei Märkte „nur“ rund 70 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften, wächst ihr Anteil an der globalen Produktion von informationellen Gütern und Dienstleistungen auf rund 90 Prozent. Innerhalb dieser drei Großmärkte gibt es in der Informations- und Kommunikationsindustrie mehr als 300 multinationale Konzerne mit einem Jahresumsatz, der über 180 Millionen US-Dollar liegt. Während diese Konzerne nur geringe Formen vertikaler Konzentration aufzeigen, sind sie gleichzeitig hochgradig horizontal konzentriert, mit wachsenden Trends zu Multimedienkonzernen und zu Mischkonzernen entlang einer Trennungslinie zwischen informationsverarbeitender Industrie (zum Beispiel private Telefongesellschaften) und Dienstleistungsunternehmen der Kommunikationsindustrie (zum Beispiel Datenbanken), die historisch obsolet geworden ist. Diese ökonomisch-technologischen Trends finden ihre politische Entsprechung in den von den USA ausgehenden Privatisierungs- und Deregulierungsstrategien im Fernmeldesektor und in den multilateralen (Gatt-Uruguay-Runde) und bilateralen Freihandelsabkommen (USA-Kanada).

Der stets vorhandene Doppelcharakter von Information und Kommunikation als kulturelles und kommerzielles Gut erfährt durch seine steigenden Tendenzen zur Internationalisierung und Privatisierung eine markante Gewichtsverlagerung in Richtung auf seinen Anteil als Tauschwert. Weltweite kulturelle Brüche, Verwerfungen, Verformungen, Identitätskrisen und Kulturkonflikte sind die hiermit zusammenhängende und notwendige Folge. Sie lassen sich zum Beispiel daran festmachen, daß die iranische Revolution 1978 ihren ersten Ausdruck im Anzünden und Verbrennen von Teheraner Kinos mit Hollywood-Filmen fand, in der enormen symbolischen Bedeutung eines Poeten wie Ernesto Cardenal in der sandinistischen Regierung, im Befreiungsmoment, das amerikanischen Filmen in osteuropäischen TV-Anstalten seit 1989 zugesprochen wird, in der blutigen Zurückweisung westlicher Kulturkonzepte durch die chinesische Führung 1989 oder in dem in der gesamten Dritten Welt versteckt oder offen vorhandenen Bild des „Ugly American“ (Lederer/Burdick, 1958). Es ist dies eine kulturelle Abwehrreaktion gegen ökonomisch bedingte Weltmarktstrategien seitens der USA, Japans und der EG. Dieser Konflikt zwischen Ökonomie und Kultur hat längst auch Europa selbst erreicht. So definiert die TV-Richtlinie der EG-Kommission vom 16.11.1989 Fernsehen als „Dienstleistung“, das heißt als ökonomische Ware im Sinne des EWG-Vertrages vom 25.3.1957. Diese Richtlinie verfolgt zwei Zielsetzungen. 1. Sie trägt der Kommerzialisierung des Fernsehens insofern Rechnung, als sich die EG-Kommission mit dieser Definition Regelungskompetenz in einem unter anderem auch kulturell zu definierenden Bereich zuspricht. Kulturfragen fallen jedoch ausdrücklich nicht in die Kompetenz der EG und werden vom EWG-Vertrag nicht abgedeckt. 2. Mit der in Art.4 der TV-Richtlinie festgeschriebenen Quotierung, daß der Hauptteil der Sendezeit aus europäischen Werken bestehen müsse, setzte sich ein sowohl ökonomisch als auch kulturell bedingter (weicher) Protektionismus gegenüber der starken Film- und TV-Industrie aus den USA durch.

Der Ökonomie/Kultur-Konflikt um Güter der Informations-, Kommunikations- und Kulturindustrien wiederholt sich im Gatt, dort allerdings mit umgekehrten Vorzeichen wie in der Debatte um die EG-TV-Richtlinie. Bereits bei Eröffnung der sogenannten Uruguay-Runde des Gatt 1986 drängten die USA auf eine weltweite Liberalisierung elektronischer Dienstleistungen. Neben dem Banken-, dem Versicherungs- und Bausektor, der Luftfahrt und der Schiffahrt gehört dazu auch die gesamte Telekommunikationsbranche und, nach dem Verständnis der USA, auch die gesamte Film- und TV-Industrie. Gegen den Einbezug der Film- und TV-Industrie in die laufenden Gatt-Verhandlungen sprach sich die EG-Kommission im Juni 1990 aus, da es gelte, das „kulturelle Erbe“ Europas zu schützen.

Für den Ökonomie/Kultur-Konflikt ist es bezeichnend, daß die EG-Kommission für ihren Binnenmarkt Fernsehen als ökonomische Ware definiert, im Außenverhältnis gegenüber den USA Fernsehen jedoch als kulturelles Gut betrachtet.

Trotz wachsender Massenkommunikation fehlt immer mehr Menschen der Medienzugang

In den allermeisten Teilen der Welt, insbesondere in den Entwicklungsländern, wird das nur langsame Wachstum der Kommunikationsmittel durch das Bevölkerungswachstum mehr als kompensiert. Haben einerseits immer mehr Menschen Zugang zu den verschiedenen Massenmedien, so steigt andererseits die absolute Zahl der Menschen, die überhaupt keinen Zugang zu Massenmedien haben, an. Insbesondere bleibt die Wachstumsrate bei den Printmedien hinter der Anzahl alphabetisierter Menschen zurück. Unausgewogenheiten existieren nicht nur im Regionalvergleich, sondern auch im Verhältnis einzelner Länder zu der sie umgebenden Region oder innerhalb eines Landes. So verfügt zum Beispiel Japan mit nur 5 Prozent der asiatischen Bevölkerung über 66 Prozent der asiatischen Zeitungsauflage, 46 Prozent der Radiogeräte, 63 Prozent der TV- Geräte und 89 Prozent der Telefonanschlüsse. Auch wenn das Radio neben dem Fahrrad als die in der Dritten Welt am weitesten verbreitete westliche Technologie ist, so gibt es auch hier erhebliche Diskrepanzen im Nord-Süd-Vergleich: 78 Prozent aller weltweit vorhandenen Radioempfangsgeräte sind in den USA und Europa, 12 Prozent in Asien, 6 Prozent in Lateinamerika und 3 Prozent in Afrika.

Der Zugang zu Information und Kommunikation wird durch vielfältige Mechanismen geregelt: sozial (Kaufkraft und Bildung), politisch (Zensur), juristisch (Urheberrecht), technisch (Verschlüsselung) und ökonomisch (Infrastruktur). Über solche Mechanismen gibt es auch tiefgreifende Zugangsdiskrepanzen innerhalb der westlichen Industrieländer, sei es, daß der Zugang zu hochsensiblen Wissensbeständen in den Bereichen Kernfusion oder Lasertechnologie nur für eine Handvoll Experten möglich ist, sei es, daß sich nur wenige Unternehmen den regelmäßigen Bezug von ausgesprochen teuren Newslettern (in kleiner Auflage) mit wichtigen ökonomischen Informationen leisten können.

Osteuropa in der Medien-Zange der westlichen Multis

Mit 280 Millionen Menschen stellt die UdSSR den größten TV- Binnenmarkt in Europa dar. 95 Prozent aller 80 Millionen Haushalte sind mit einem TV-Gerät ausgestattet. Die beiden zentralen TV-Programme werden über ein dichtes Netz von terrestrischen und Satellitenverbindungen unionsweit und zeitversetzt in neun Zeitzonen ausgestrahlt. Die TV-Systeme der UdSSR und der USA gleichen sich in einem Punkt insofern, als beide Länder in ihrer TV-Programmpolitik nahezu autark sind. Der Anteil ausländischer TV-Programme am Gesamtprogramm liegt jeweils unter fünf Prozent.

Die politischen Veränderungen in Osteuropa waren und sind von erheblicher Bedeutung für das Fernsehen. Spielte das Fernsehen wie im Fall der rumänischen Revolution im Dezember 1989 sogar einen aktiven Part an den Umwälzungen, so haben sich die osteuropäischen TV-Programme inzwischen stark den inhaltlichen Standards westeuropäischer Programme angeglichen. In unterschiedlicher Intensität strahlen die osteuropäischen TV-Sender inzwischen auch Werbefernsehen aus. Bereits 1988 erhielt das italienische Unternehmen Fininvest (Silvio Berlusconi) das Exklusivrecht zur Vermarktung von Werbezeiten im sowjetischen Fernsehen für Westkunden.

TV-Programme auf der Einbahnstraße von Norden nach Süden

Charakteristisch für die drastischen Veränderungen bei den Massenmedien in Osteuropa ist deren inhaltliche Liberalisierung genauso wie ihre zunehmende Kommerzialisierung. Multinationale Medienkonzerne aus Westeuropa (Murdoch, Maxwell, Bertelsmann, Springer) beherrschen inzwischen den Zeitungsmarkt in einigen Ländern Osteuropas. So gingen die beiden ungarischen Zeitungen 'Mai Nap' und 'Reform' ein Joint-venture mit Murdoch ein; 'Magyar Hirlap', die ehemalige Staatszeitung, wurde zu 40 Prozent an Maxwell verkauft. Warnte der ARD-Vorsitzende Hartwig Kelm Anfang 1990 vor einem „medienpolitischen Kolonialismus“ seitens der BRD gegenüber der damaligen DDR, so dürfte eine solche Warnung insgesamt für das Verhältnis von West- zu Osteuropa gelten.

Trotz enormer regionaler Unausgewogenheiten (82 Prozent aller TV-Geräte sind in den USA und Europa, nur 10 Prozent aller Geräte sind in Asien) ist das Fernsehen zum „Leitmedium“ aller Massenmedien geworden: Industriepolitisch müssen die Bezüge zur Raumfahrt- und Satellitenindustrie gesehen werden, technologiepolitisch sind in den gegenwärtig erprobten Systemen des Hochzeilenfernsehens (HDTV) Spin-off-Effekte für die zivile und militärische Microchip-Industrie zu erwarten, in der „Public Diplomacy“ verdrängen weltweit gesendete Live-Interviews mit Terroristen oder Staatsoberhäuptern traditionelle Formen der versteckten Diplomatie, die gesamte Werbebranche wäre ohne dieses Medium nicht mehr vorstellbar, und schließlich laufen für den privaten Nutzer im TV-Gerät der Zukunft die unterschiedlichsten medialen Nutzungsformen zusammen (Tele-Einkauf und Tele-Banking, Pay-TV, elektronische Zeitung, Bildschirm für den PC usw.). Die TV-Programmflüsse laufen weltweit in Form einer Einbahnstraße. So entspricht zum Beispiel dem jährlichen Verkauf von rund 30.000 TV-Programmstunden von Frankreich nach Afrika so gut wie keinerlei Rückfluß. Die Verkaufspraktiken der großen TV-Programm-Exporteure laufen darauf hinaus, daß der Aufbau einer eigenständigen Film- und TV-Programm-Produktion in vielen Ländern der Dritten Welt Welt verhindert wird. Muß eine italienische TV-Anstalt für eine Stunde amerikanischen TV-Materials zwischen 10.00 und 60.000 US-Dollar bezahlen, so erhält das Fernsehen in Jamaika das gleiche Material für nur 100 US-Dollar. Das aus den USA importierte Material ist also so billig, daß es unterhalb der lokalen Produktionskosten liegt, ökonomische Anreize zum Aufbau einer eigenständigen TV- Produktion also fehlen. Die weltweite Einbahnstraße von Nord nach Süd erfährt ihre Ergänzung in einem seit langem anhaltenden und sich verstärkenden Trend zur Zunahme von Unterhaltungsangeboten.

Mit Steigerungsraten von zur Zeit mehreren einhundert Prozent pro Jahr haben sich Videogeräte und –filme in vielen Ländern der Dritten Welt seit Anfang der 80er Jahre sprunghaft durchgesetzt. Sie verstärken die Film- und TV-Trends zu Unterhaltung und Kommerzialisierung. Sie haben inzwischen das kleinste indische Dorf erreicht und können nach Meinung des indischen Anthropologen Binod Agrawal in ihren kulturellen und sozialen Auswirkungen nur mit denen der Grünen Revolution in den 50er und 60er Jahren verglichen werden.

Telefon in der Dritten Welt – nur Anschluß unter wenig Nummern

Das weltweite Telefonsystem gleicht einem großen Computer, der in der Lage ist, 600 Millionen Einzelanschlüsse jeweils miteinander zu verbinden. Für die Postverwaltungen aller Länder spielen diese Telefonsysteme einen Jahresumsatz von 250 Milliarden US-Dollar ein. Zur Modernisierung des Fernmeldewesens werden jährlich 100 Milliarden US-Dollar investiert. (Diese Größenordnungen verweisen übrigens auf den nicht unerheblichen Anteil des Fernmeldesektors bei der „Verschuldungsfalle“ der Dritten Welt.) Weltweite Disparitäten sind auch für das Telefonwesen charakteristisch: Zwei Drittel der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zum Telefon; in Tokio gibt es mehr Telefone als in ganz Afrika mit seinen 500 Millionen Einwohnern. Gemessen an der Zahl von Hauptanschlüssen pro 100 Einwohner ist die Telefondichte in verschiedenen Ländern (1989) sehr unterschiedlich: Schweden 66, USA, 53, BRD 47, CSFR 14, UdSSR 10, Ägypten 3, VR China 1 und Indien 0,5.

Für die Entwicklungsländer müßten völlig neuartige, entwicklungsrelevante Indikatoren der Telefondichte entwickelt werden. Sinnvoller für sie wäre zum Beispiel ein Indikator, der die Minimalentfernung zwischen Einwohner und öffentlich zugängigem Telefonanschluß bemißt. Der Ausbau des Fernmeldewesens in der Dritten Welt hat sicherlich und zu Recht hohe Priorität. Er kann sich jedoch nicht länger an rein technischen und quantitativen Wachstumsmodellen orientieren, sondern müßte die konkreten politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen berücksichtigen.

Renitenzen gegen internationale Gleichschaltung

Gegen den dominanten Trend der Internationalisierung und Kommerzialisierung weiterhin ungleichgewichtiger Informations- und Kommunikationsflüsse von Nord nach Süd und demnächst wahrscheinlich auch von West nach Ost mit seinen epochalen Auswirkungen einer globalen kulturellen Homogenisierung bilden sich neuartige regionale Verdichtungen, auch neuartige kommerzielle Abhängigkeiten heraus.

Regionale Verdichtungen und damit zusammenhängende soziale Segmentierungen, selektive Dissoziationen und/oder die erfolgreiche Fortführung autochthoner, von außen kaum beeinflußter Medien- und Kulturindustrien lassen sich an verschiedenen Beispielen festmachen. Mit rund 600 Spielfilmen pro Jahr ist Indien weit vor den USA nach wie vor der größte Filmproduzent der Welt. Der in seiner ökonomischen Bedeutung nicht zu unterschätzende, in sich völlig abgeschlossene türkische Videomarkt in West-Berlin steht für gegenläufige Entwicklungen genauso wie die zunehmende Islamisierung des iranischen Fernsehens oder die Verdrängung amerikanischer Soap-operas im brasilianischen Fernsehen durch eigene Telenovelas. Auch der TV-Nachrichtenaustausch regionaler Organisationen – Asia-Pacific Broadcasting Union (ABU), Arab States Broadcasting Union (ASBU) und endlich auch die Union of National Radio and Television Organizations in Afrika (URTNA) – hat sich in den letzten Jahren intensiviert und verdichtet, dies freilich vor dem Hintergrund einer insgesamt auch angewachsenen audiovisuellen Medienlandschaft.

Muster der traditionellen euro-amerikanischen Dominanz über weltweite Informations- und Kommunikationsströme konnten an den Rändern der Zentren von starken Kapitalkräften aus den Peripherien angeknabbert werden. So gelang dem mexikanischen Fernsehsender Televisa ein ausgesprochen erfolgreicher Einbruch in den kalifornischen TV-Markt mit seiner großen Zahl spanischsprachiger Amerikaner. Und Brasiliens TV- Konzern Globo, immerhin der viertgrößte TV-Sender der Welt, kaufte sich vor einigen Jahren eine Minderheitenbeteiligung an Radio Monte Carlo und begann mit der Vermarktung seiner Telenovelas auf dem europäischen Markt (ZDF, Portugal, Ungarn, Polen). Immer sichtbarer ist auch Japan als starker Exporteur von TV-Programmen geworden; sei es, daß japanische Kinder-TV- Serien solchen aus den USA in Italien inzwischen den Rang abgelaufen haben, sei es, daß die japanische Serie Oshin zu den erfolgreichsten TV-Serien im postrevolutionären Iran wurde.

Auf der Ebene von „grass root“-Organisationen und Alternativgruppen haben sich in den letzten zwei Dekaden zahlreiche Medieninitiativen entwickelt. Das gilt besonders für Lateinamerika und die anglophonen Länder. Bevorzugte Medien für solche „grass root“- Organisationen sind Videogeräte, lokale Rundfunkstationen, Newsletters, Zeitschriften und Bücher und neuerdings auch elektronische Mailbox-Systeme.

Neuartige Kluft zwischen „information rich“ und „information poor“

Bei der zukünftigen internationalen Informatisierung aller Lebensbereiche in allen Regionen der Welt sind die Konflikte an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Kultur vorprogrammiert. Angesichts der ökonomischen Bedeutung der Ware Information wird sich die wachsende Kluft zwischen „Habenden“ und „Habenichtsen“ entlang der Nord-Süd-Dimension um eine Kluft zwischen „information rich“ und „information poor“ dramatisch verschärfen. Auf internationaler Ebene gibt es inzwischen eine Vielzahl von Organisationen, die die unterschiedlichsten Aspekte im Umgang mit der Ware Information regeln wollen, unter anderem:

– Vollversammlung der UN (Menschenrechte);

– Weltraumausschuß der UN (Weltraum- und Satelliten-

recht);

– Weltorganisation für geistiges Eigentum (Urheberrecht);

– Weltpostverein (Briefverkehr);

– Internationaler Fernmeldeverein (Fernmeldewesen);

– OECD (Handel und Industrie);

– Cocom (Verhinderung sensibler Informationsflüsse in

ausgewählte Länder);

– KSZE-Prozeß (Menschenrechte);

– Gatt (Handel);

– EG-Kommission (Handel).

Dem Austritt der USA aus der Unesco (Kulturorganisation der Vereinten Nationen) zum Jahresende 1984 kommt bei allen diesen internationalen Verhandlungen eine mehrfache Bedeutung zu. 1. Er markiert einen Wechsel in der amerikanischen Außenpolitik vom Multilateralismus zum Bilateralismus. 2. Er steht für den Beginn einer Politikstrategie, die die internationale Informations- und Kommunikationspolitik in Nicht-UN-Gremien verlagert. 3. Dem Unesco-Austritt der USA entspricht die drastische Reduzierung sämtlicher kommunikationspolitischer Projekte in der Unesco unter ihrem neuen Generaldirektor Federico Mayor (seit 1987). Das bedeutet schließlich, daß es keinerlei internationales Gremium von Rang und Relevanz mehr gibt, in dem die kulturellen Implikationen der weltweiten Informatisierung diskutiert werden.

Das könnte tödlich sein – nicht nur für die Kulturen in den Entwicklungsländern, sondern auch für die in den östlichen und westlichen Industrieländern. Schon mittelfristig dürfte sich eine derartige Konfliktvermeidungsstrategie als schwerwiegender Fehler der westlichen Industrieländer herausstellen. In ihrer naiven, gleichwohl verständlichen, Nachkriegseuphorie präsentierte die Kommunikationswissenschaft mit dem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East (Daniel Lerner 1958) ein Programm und ein Paradigma, das den Massenmedien in der Dritten Welt die entscheidende Rolle als Modernisierungsfaktor zuschrieb. Zumindest für die Entwicklungen im Nahen Osten scheint gegenwärtig ein Paradigmenwechsel in der Kommunikationswissenschaft notwendig zu sein. Er kündigt sich in folgendem Titel an The Passing of Modernity. Communication and the Transformation of Society (Hamid Mowlana und Laurie J. Wilson 1990).

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrages wird demnächst erscheinen in dem Band „Globale Trends“, herausgegeben von der Stiftung „Entwicklung und Frieden“ in Bonn.

Jörg Becker ist Professor und Privatdozent an der Technischen Hoschschule Darmstadt und Direktor der Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung in Frankfurt.

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