DIE NEUE VÖLKERWANDERUNG
: SowjetbürgerInnen in Bewegung

Sobald die Menschen in der Sowjetunion Pässe bekommen, werden Millionen gen Westen reisen wollen. Wie viele von ihnen werden angesichts der massiven sozialen und ökologischen Probleme auf Dauer auswandern oder zu kurzfristigen Arbeitsaufenthalten kommen? Die Antwort hängt von der Entwicklung in der Sowjetunion als auch vom Verhalten der westlichen Staaten ab.  ■ VON INGRID
OSWALD

Welche Konsequenzen hat der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion für die europäischen Staaten? Die aus politischen Gründen jahrzehntelang geforderte Reise- und Ausreisefreiheit erscheint nun, da sie in Kürze gewährt wird, wie eine Bedrohung. Allgemein wird eine große – in ihrem Umfang bislang nicht einschätzbare – Reise- und Ausreisewelle erwartet; mit Reisewilligen in zweistelliger Millionenhöhe wird gerechnet.

Der Aufbau des Sowjetreichs war begleitet von riesigen internen Wanderungsströmen; auch wurde die Emigration in den letzten Jahrzehnten dazu benutzt, kritisches Potential im Lande zu verringern. In den letzten beiden Jahren konnte man verfolgen, wie sehr sich ökonomisch-politische Reform und Abwanderung und Flucht aus Krisengebieten gegenseitig beeinflußten. Nationalistische Argumente im Verlauf der Reformdiskussion beschleunigten die Wanderungsbewegungen. Nationale Minderheiten, die schon seit Jahrzehnten Verbindungen zu bereits in der Diaspora lebenden Emigrierten hatten, wichen dem immer größer werdenden internen Druck aus, indem sie nachwanderten. Juden und Armenier haben Verbindungen in alle Teile der Welt, Deutsche werden in ihrem historischen „Stammland“ aufgenommen, Griechen lebten selbst im Exil und kehren nun zurück.

Sobald das neue Reisegesetz verabschiedet sein wird – aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr – werden sich jedoch auch Menschen auf den Weg machen, die bislang keine Verbindungen zum Westen hatten. Jeder Reisewillige erhält einen Paß und benötigt zur Ausreise nur noch ein gültiges Visum für das Reiseland.

Die Realisierung dieser politischen Forderung wird riesige soziale Probleme aufwerfen. Es ist deshalb wichtig, sich die einzelnen Aspekte zu vergegenwärtigen, die zusammengenommen den totalen Zusammenbruch der etablierten Sicherungssysteme bedeuten.

Nationalitätenkonflikte: Vom Baltikum bis Tadschikistan

Seit etwa zwei Jahren verursachen die zunehmend offener ausgetragenen Nationalitätenkonflikte immer größere Fluchtbewegungen. Mittlerweile wird die Gesamtzahl der Flüchtlinge auf mehr als 600.000 geschätzt. Sie sind nur notdürftig untergebracht, ohne Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten, und können sozial kaum integriert werden. Allein die Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Winter 1988/89, von denen im Winter 1990 auch die russische Bevölkerung in Aserbaidschan betroffen wurde, veranlaßte mehr als eine halbe Million Menschen zur Flucht. Aus Usbekistan wurden im Sommer letzten Jahres innerhalb weniger Wochen mehr als 60.000 Angehörige der dort siedelnden Mescheten (eine ursprünglich aus Georgien vertriebene Volksgruppe) vertrieben, die seitdem notdürftig in anderen Republiken untergebracht sind.

Im ohnehin schon dichtbesiedelten Moskau und dessen Umland wurden nach offiziellen Angaben etwa 60.000 Menschen aufgenommen. Wahrscheinlich sind es jedoch weit mehr, denn die Stadt, in der inzwischen nahezu zehn Millionen Menschen leben, droht bald aus allen Nähten zu platzen. Der Staat soll zum einen für die Kosten von Unterbringung und Verpflegung aufkommen – die natürlich, so weit es geht, auf Verwandte und Bekannte abgewälzt werden –, zum anderen kommen riesige Summen von Entschädigungszahlungen für Wohnraum und Hausrat auf ihn zu. Jedoch sollen diese Zahlungen jeweils von den Republiken getragen werden, in denen der Schaden verursacht wurde; zum Ausgleich würde ihnen die Union einen zinslosen Kredit gewähren. Angesichts der gegenseitigen politisch- ökonomischen Abschottung der Republiken und der drohenden Zahlungsunfähigkeit der Zentrale handelt es sich wohl eher um Absichtserklärungen. Die betroffenen Menschen haben das Nachsehen und werden sich auf eigene Faust zu helfen suchen.

Sozio-ökonomische Probleme

Auch aus den Republiken, in denen die Nationalitätenkonflikte bislang unblutig verliefen, etwa aus dem Baltikum oder Tadschikistan, sollen zunehmend Aufnahmeanträge in die Russische Föderation gestellt werden. Offenbar denkt die russische Wohnbevölkerung der nichtslawischen Republiken an ihre Rückkehr nach Rußland.

Allen ist klar, daß die anstehende wirtschaftliche Umstrukturierung die bestehenden Probleme zunächst einmal verschärfen wird. Hierzu zählt die immer drängender werdende Wohnungsnot in den großen Städten, die zu Slumbildung, Dauerprovisorien und zur Ansiedlung illegaler bzw. nur geduldeter Arbeitskräfte rund um die Großstädte führt. Der Verdrängungsmechanismus wie die anhaltende Landflucht ziehen versteckte und tatsächliche Obdachlosigkeit sowie Massenverarmung nach sich. Schon heute leben mehr als 40 Millionen Menschen am Rande der Armutsgrenze und darunter; etwa drei Millionen, unter ihnen viele Jugendliche, sollen obdachlos sein.

Die notwendigen Rationalisierungsmaßnahmen werden die Arbeitslosigkeit verstärken – heute schätzt man etwa acht Millionen Arbeitslose (etwa sechs Prozent der werktätigen Bevölkerung), bis zum Jahr 2000 könnten es nach sowjetischen Schätzungen 25 bis 30 Millionen sein.

Umweltzerstörung und Umsiedlungen

Die Vernichtung der Lebensgrundlage von Millionen Menschen durch Umweltzerstörung ist inzwischen zu einem breit diskutierten Thema geworden; nach einer neuen Studie leben in der Sowjetunion etwa 20 Prozent aller Einwohner in ökologischen Katastrophengebieten. Die interne Umsiedlung erweist sich als sehr schwierig. So sind zwar 1986 unmittelbar nach dem Atomkraftwerksunglück bei Tschernobyl 135.000 Menschen evakuiert worden. Darüber hinaus wird jedoch die Evakuierung von fast zwei Millionen Menschen gefordert, die allerdings aus Mangel an realistischen Möglichkeiten wohl ausbleiben wird. 115.000 Menschen aus dem besonders gefährdeten Gebiet Brjansk sollen nach neuesten Angaben bis 1996 umgesiedelt werden, wohin, weiß noch niemand.

Eine weitere Krisenregion ist das Gebiet um den Aralsee, den einst viertgrößten See der Welt: Die Ableitung des Seewassers für den Reis- und Baumwollanbau hat die Wasserfläche um 40 Prozent schrumpfen lassen; das Wasser ist versalzen und sauerstoffarm. Die Region ist auf weiten Strecken eigentlich unbewohnbar geworden.

Die Folgen der Atombombenversuche aus den 50er und 60er Jahren sind weder für das arktische Nowaja Semlja noch für die Testgebiete im Ural und bei Semipalatinsk abzuschätzen.

In Armenien leben noch heute, zwei Jahre nach dem schweren Erdbeben, bei dem mehr als 500.000 Menschen obdachlos wurden, viele Menschen in Zelten und Notunterkünften.

Die Rote Armee kehrt heim

Die abrüstungsbedingte interne Umstrukturierung der Sowjetarmee wirkt sich ebenfalls auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt aus. Schon seit Jahren wird in diesem Zusammenhang über die Schwierigkeiten der ohnehin als schwer integrierbar geltenden Afghanistan-Rückkehrer diskutiert. Ähnliches gilt für die Soldaten, die von dem Truppenabzug aus Osteuropa betroffen sind. 380.000 Soldaten waren in der DDR stationiert, mit Familienangehörigen sind es etwa 600.000 Personen.

Es gibt Befürchtungen deutscher und auch einiger sowjetischer Behörden, daß von diesen in der Heimat wenig willkommenen Armeeangehörigen sehr viele in Deutschland bleiben wollen. Bislang haben jedoch erst einige hundert Personen Asylantrag gestellt.

Gefängnisse und Psychiatrien öffnen sich

Besonders schwer haben es unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ehemalige Insassen von Gefängnissen und Psychiatrien, deren Entlassung unter Gorbatschow vorangetrieben wird. Seit 1985 ist die Zahl der Gefangenen angeblich von 1,6 Millionen auf 769.000 gesunken. Von den Entlassenen jeden Jahres können etwa 30.000 keine Arbeit finden. Da jedoch die wirkliche Zahl der Gefangenen nicht bekannt ist, ist dieser Aspekt noch weniger einschätzbar als die anderen.

Tatsächlich nimmt die Emigration aus der Sowjetunion stetig zu. So wurden 1990 von Januar bis Ende Juli bereits 234.000 Ausreisegenehmigungen erteilt, wobei es sich bei den zahlenmäßig stärksten Gruppen um die bereits erwähnten Nationalitäten Juden, Deutsche, Armenier und Griechen handelt.

Tatsächlich sollte man aber genau unterscheiden zwischen denjenigen, die der Sowjetunion wahrscheinlich für immer den Rücken kehren, und solchen – hier vor allem Russen, aber auch Weißrussen und Ukrainer – die zwar reisen wollen und dies auch werden, aber nicht an eine endgültige Ausreise denken.

Selbstbesinnung und Hoffnung auf den Westen

Anzunehmen ist, daß Solschenizyn kürzlich mit seinem Appell an die russische Öffentlichkeit vielen aus dem Herzen bzw. der Seele sprach: Er appellierte an die spirituellen Kräfte Rußlands, das, wenn es sich nur auf sich selbst besinne, genügend Kraft zur Erneuerung habe und dafür den Westen mit seinen verderblichen Einflüssen nicht zu kopieren brauche. Allerdings gibt es neben diesem großen, quasi übergreifenden Auftrag die täglichen Sorgen und kurzfristig und praktisch zu lösenden Probleme. Hier werden große Hoffnungen in den Westen, besonders in die Bundesrepublik gesetzt. Die Tatsache, daß es sich bei den Deutschen um die Gegner des Zweiten Weltkriegs handelt, scheint bei kaum jemandem noch eine Rolle zu spielen.

Hier greift ein Mechanismus, der kaum sozialpolitisch, eher psychologisch zu erklären ist: Während sich die sowjetische Regierung einerseits gern auf allen Ebenen mit den USA vergleicht, nimmt sie andererseits jedoch ohne Verlegenheit Kredite von Staaten wie Italien oder Argentinien an. Dem entspricht, daß viele Russen von der geistigen Überlegenheit und Zukunft ihres Landes überzeugt sind und doch gleichzeitig ihre Probleme auf eine sehr materielle und pragmatische Weise lösen müssen, was wachsende Gefühle der Demütigung und der Kränkung zur Folge hat.

Falls das Sowjetsystem wieder zu repressiven Maßnahmen greift, um den Zerfall aufzuhalten, würde das den Auswanderungsstrom sicher immens anwachsen lassen. Ansonsten ist ein Migrationsverhalten wahrscheinlich, das, wie am Beispiel Polen, durch Exterritorialisierung informeller Ökonomien die heimischen Defizite auszugleichen versucht. Das hieße vor allem, daß nicht ständiges Exil, sondern eher kurzfristige Aufenthalte, Gelegenheitsarbeiten, illegale Arbeitsmigration, Gewerbe- und Handelstätigkeit zunehmen werden – mit den ganz spezifischen Konsequenzen für die nationalen Wirtschaften: Der schwierigen Integration im Gastland stünden Ungleichmäßigkeiten beim Aufbau der sowjetischen Wirtschaft gegenüber.

Neuere offizielle Umfrageergebnisse in der Sowjetunion bestätigen diese Vermutungen: Obwohl fast 40 Prozent der Befragten annehmen, daß die Reisefreiheit Massenemigration zur Folge haben wird, sind doch die Hälfte der Befragten wenig oder „keinesfalls“ bereit, einen Angehörigen zu unterstützen, der die Sowjetunion für immer verlassen will. Etwas anderes ist es, falls es sich nur um eine zeitweilige Arbeitsmigration in ein kapitalistisches Land handelt, hier ist die Billigung eindeutig: Nicht einmal zehn Prozent haben hierzu eine negative Meinung.

Ingrid Oswald ist Soziologin und hat am Osteuropa-Institut in Berlin promoviert. Im Rahmen vergleichender Sozialforschung hat sie sich mit der Frage beschäftigt, welche Sozialstrukturen Migrationen begünstigen.