DIE NEUE VÖLKERWANDERUNG
: Zionistischer Traum, arabischer Alptraum

Geht es nach Israels Regierung, wandern bis 1994 eine Million Sowjetjuden ein. Auf dem Spiel stehen dann der Frieden mit den arabischen Nachbarn, die Beziehungen zu den USA und die Entwicklung der palästinensischen „Intifada“. Entscheidend aber ist der Ausgang der Golfkrise.  ■ VON GHAZI FALAH

Die jüdische Bevölkerung Israels wird mit der neuen „Alija“, der Einwanderung aus der Sowjetunion, um 27 Prozent zunehmen, die Gesamtbevölkerung um 20 Prozent. Das ist innerhalb von fünf Jahren ein Viertel des Bevölkerungszuwachses, den man in den vierzig Jahren davor verzeichnen konnte. Wahrlich eine hochwillkommene Verschiebung des demographischen Gleichgewichts. Vor allem für die Vertreter der zionistischen Ideologie, die den jüdischen Majoritätsanspruch als das Glaubensaxiom des zionistischen Staates begreifen. Nach offiziellen Zahlen wird die sowjetische Einwanderung etwa 20 Milliarden Dollar kosten. Ein ungeheurer Preis für ein Land mit einem jährlichen Budget von 33 Milliarden Dollar und 4,2 Milliarden Auslandsreserven. Die Wirtschaft muß 540.000 neue Arbeitsplätze bis Ende 1994 schaffen, um die Arbeitslosenrate auf neun Prozent zu halten; das setzt ein Jahreswirtschaftswachstum von fünf bis sieben Prozent voraus. In den letzten 15 Jahren ist Israels Wirtschaft nicht über die Einprozentmarke hinausgekommen.

Anfang März 1990 ließ der Premierminister verlautbaren, daß Einwanderungszahlen nicht veröffentlicht werden und Staatsgeheimnis seien, um eine genaue Berechnung des Bevölkerungszuwachses durch die Einwanderung zu verhindern. So ist es nur logisch, daß alle Schätzungen weit auseinandergehen; je nachdem, wer sie macht und wo seine politische Heimat liegt. Im allgemeinen sind es Vertreter und Regierungsmitglieder des Likud-Blocks, die zu hohen Zahlen neigen. Auf diese Art versuchen sie, die finanzielle Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und die proisraelische Lobby anzukurbeln. Schätzungen der israelischen Regierung für 1990 bewegen sich zwischen 100.000 und 250.000 (!) Einwanderern. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind von Januar bis September dieses Jahres etwa 70.000 Juden aus der Sowjetunion eingewandert.

Viele Jahre hindurch haben Israel und die pro-israelische Lobby in den USA auf die Regierung der Sowjetunion Druck ausgeübt, den Juden die Grenzen zu öffnen. Tatsächlich nahm die Emigration in den achtziger Jahren zu. Doch die große Mehrheit der jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion – über 90 Prozent der Auswanderer – wanderte nicht nach Israel aus, sondern in die Vereinigten Staaten oder andere Länder. Zionistische Organisationen haben daher immerfort versucht, die US-Regierung zu überreden, die Einwanderungsquote für Juden aus der Sowjetunion zu reduzieren. Die Situation änderte sich radikal 1989, als Washington tatsächlich die Zahl der Einreisebewilligungen drastisch senkte. Dazu kam, daß der Sowjetunion 1990 der Durchbruch in ihren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gelang: Die Meistbegünstigungsklausel für Handelsverträge wurde ratifiziert. Zugeständnisse der Sowjetunion, die Auswanderungspolitik für Juden zu ändern, hatte das Zustandekommen der Klausel zum Teil beeinflußt. Damit hatte sich die pro-israelische Lobby in Washington durchgesetzt.

Der Zeitpunkt war von der Annäherung der beiden Supermächte bestimmt, und eines der wesentlichsten Merkmale der gewaltigen Immigration nach Israel ist die Tatsache, daß sie in großem Ausmaß nicht freiwillig erfolgt, sondern vielmehr die einzige Möglichkeit darstellt, die Sowjetunion zu verlassen. Dazu kommt noch ein psychologisches Moment: die Angst vor zunehmendem Antisemitismus und vor Pogromen in der Sowjetunion. Wie real die Ängste auch immer sein mögen, der israelischen Regierung sind sie nur ein willkommenes Mittel, alle Juden, die noch nicht in Israel leben, zu überzeugen, in den Staat auszuwandern, der der einzige Platz ist, wo ein Jude sicher und behütet leben kann: nach Israel. Eine Schlüsselfrage ist die ausgeprägte zionistische Dominanz in Israel, wobei Zionismus letztlich mit „Politik der Demographie“ umschrieben werden kann. Alle zionistischen Parteien sehen ihre Hauptaufgabe darin, die jüdische Mehrheit zu erhalten und zu festigen. Derzeit sind etwa 84 Prozent der Bevölkerung innerhalb der Grünen Linie Israelis.

Weit klaffen die Meinungen allerdings auseinander, wenn von den besetzten Gebieten die Rede ist, wo größtenteils eine arabisch-palästinensische Bevölkerung lebt: Soll eine Annexion dieser Gebiete stattfinden oder nicht? Während die sozialdemokratische Arbeitspartei in den letzten Jahren die Meinung vertrat, daß die Gebiete aus demographischen Überlegungen nicht dem Staat Israel einverleibt werden dürften, zeigte der Likud-Block eine ambivalente Haltung des Abwartens – auf eine vielleicht günstige Gelegenheit. Die Einwanderungswelle bedeutet für die israelische Rechte einen enormen Aufschwung. Sie wird in ihrer kompromißlosen Haltung bezüglich der „Gebiete“ durch jedes Wachstum der Bevölkerung bestärkt.

Die zwei großen politischen Parteien, Likud und Arbeitspartei, überbieten einander in ihrem Werben um die Gunst der neuen Wählerschaft, wobei sie die restliche Bevölkerung etwas vernachlässigen. Die großzügigen materiellen Vergünstigungen, die Immigranten gewährt werden, lösen besonders bei den sephardischen – nichteuropäischen – Juden der unteren Schichten sowie bei der arabischen Bevölkerung Israels das Gefühl aus, diskriminiert zu werden. Obdachlose, hauptsächlich sephardische Familien, die ihre Wohnungen verloren haben, da sie die seit der sowjetischen Alija steigenden Mieten nicht mehr bezahlen können, sorgen seit Monaten für Unruhen. Viele Arbeitslose machen ihrer Angst vor sozialem Abstieg Luft. In arabischen Dörfern und Gemeinden Israels befürchtet man, daß die Erklärung von Wohnungsbauminister Ariel Sharon, die Baukapazität sei zu erhöhen, zu einer umfassenden Konfiszierung arabischen Landes führen wird. Auch fürchten die arabischen Bürger Israels, von den Neuankömmlingen aus ihren Arbeitsplätzen verdrängt zu werden.

Der große Einwanderungsstrom hat eine alte, ungelöste Frage aktualisiert: das Recht der Palästinenser auf ihr Land. In der Einwandererwelle sehen die Palästinenser und alle arabischen Staaten eine Bedrohung auf das Recht der Palästinenser, in ihr angestammtes Land zurückzukehren. Dazu kommt noch die steigende Angst vor einem möglichen Transfer der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Ganz egal, was die Regierung Israels öffentlich über Siedlungsabsichten sagen mag. Die Annexionsbestrebungen setzen sich im rechten Lager ohne viel Aufsehen durch, ebenso wie die Meinung, daß mit Jordanien schon ein palästinensischer Staat existiert, in den die anderen Palästinenser ziehen sollen. In diesem Umfeld ist es vorstellbar, daß Vehandlungen mit der PLO als überflüssig abgetan werden. Regierungen und internationale Organisationen üben Druck auf die israelische Regierung aus, Immigranten nicht in den besetzten Gebieten anzusiedeln. Dazu gehören Ostjerusalem und alle Regionen außerhalb der israelischen Grenzen von 1967.

Um die Tür für Friedensverhandlungen mit den arabischen Nachbarn nicht gänzlich zuzuwerfen, müßte die israelische Regierung die Rechte der Palästinenser anerkennen. Doch in Jerusalem geht man vom harten Kurs nicht ab. Jüdische Bürger Israels und Neueinwanderer aus der Sowjetunion werden ermutigt, sich in den annektierten Gebieten um Jerusalem und über die Grenzen von 1967 hinaus anzusiedeln. Diese neue massive Siedlungspolitik, das Fait accompli der Annexion, hat den Ablauf künftiger Verhandlungen über den Status von Jerusalem kompliziert. Die Politik der Demographie wird wahrscheinlich auch einen entscheidenden Einfluß auf die Auseinandersetzung mit der Intifada in den besetzten Gebieten haben. Wenn die Annexion der Gebiete das Endziel einer gestärkten rechten Regierung ist, und es keinen echten politischen Druck auf Israel, Gespräche aufzunehmen, gibt, dann ist zu erwarten, daß russische Immigranten auf verschiedenste Art und Weise dafür benützt werden, den Aufstand der Palästinenser niederzuschlagen. Znächst wird man die 120.000 Palästinenser, die aus den Gebieten nach Israel arbeiten fahren, durch russische Juden ersetzen. Weitere Schritte werden folgen.

Die zunehmende Entspannung in den Beziehungen der beiden Supermächte könnte zu Änderungen führen und damit auch zu einer Änderung der rigiden US-Einwanderungspolitik gegenüber Sowjetjuden. Gut informierte Wirtschaftsfachleute in Israel hegen ohnehin starke Zweifel, daß das Land imstande ist, angesichts einer stagnierenden Wirtschaft mit hohen Inflationsraten auch nur 80.000 hochqualifizierte Einwanderer in den nächsten Jahren zu integrieren. Ein geopolitischer Faktor, der die zukünftige Haltung Israels in der Palästinenserfrage prägen wird, ist der Ausgang der Golfkrise: die Art ihrer Beilegung und der neue arabische Block unter US-Hegemonie könnten entscheidenden Druck ausüben, der israelischen Regierung einen Kompromiß abzuringen.

Ghazi Falah ist Leiter des Galiläa-Zentrums für Sprachwissenschaften in Nazareth, Israel.