DIE NEUE VÖLKERWANDERUNG
: Am Golde hängt, zum Golde drängt alles

Mit Anwerbestopp für Arbeitsimmigranten reagierte Westeuropa auf die erste Ölkrise 1973/74. Gleichzeitig ertranken die „Petro-Monarchien“ am Golf buchstäblich in der Dollarflut und kurbelten gigantische Aufbauprogramme an. Doch es fehlte ihnen an Arbeitskräften. Millionen von Wanderarbeitern aus ärmeren Staaten Arabiens und Asiens setzten sich Richtung Golf in Bewegung. Durch die Golfkrise mußten Millionen von ihnen wieder flüchten – mit oftmals katastrophalen Folgen für ihre Herkunftsländer.  ■ VON GLDAS IMON

In den Golfstaaten – einschließlich Saudi-Arabiens, jedoch ohne den Irak – stiegen zwischen 1973 und Anfang der 80er Jahre die Öleinkünfte beträchtlich an: 8 Milliarden Dollar waren es im Jahre 1970, bereits 65 Milliarden 1974, und auf satte 170 Milliarden Dollar war der Geldstrom im Jahr 1980 angeschwollen. Am Ende desselben Jahres war das Auslandsguthaben der „Petro-Monarchien“ ebenso hoch wie das Bruttosozialprodukt von ganz Lateinamerika. Diese plötzliche Kapitalakkumulation veranlaßte die Regierungen dazu, umfangreiche Infrastruktur- und Industrialisierungsprogramme aufzustellen, die freilich um so ehrgeiziger ausfielen, als das anfängliche Entwicklungsniveau sehr niedrig war. Der Umfang der getätigten Investitionen für infrastrukturelle Maßnahmen wie Häfen, Flughäfen und Autobahnen, die Schaffung von Industriestandorten für Raffinerien, petrochemische Anlagen, Werften sowie soziale Einrichtungen haben die Region innerhalb eines Jahrzehnts wirtschaftlich und kulturell vollständig umgewälzt. Die Modernisierungsbemühungen und eine schnelle, oft auch brutale Verwestlichung nach amerikanischem Muster haben sich vor allem in den Städten ausgewirkt.

Abu Dhabi, 1964 ein Dorf mit ein paar tausend Einwohnern, ist zum Städtewunder der Vereinigten Arabischen Emirate geworden. 1988 zählte Abu Dhabi 500.000 Einwohner. Die Hauptstadt von Saudi-Arabien, Riad, hat ihre Bevölkerungszahl innerhalb von 15 Jahren verdreifacht: 430.000 Bewohner zählte sie im Jahr 1974, 1,5 Millionen waren es 1987. Für Einwanderer waren die Arbeitsmärkte in der Region um so attraktiver, als diese dünnbesiedelten Staaten – in Saudi-Arabien fünf Einwohner pro Quadratkilometer – nur einen sehr niedrigen Anteil an erwerbstätiger Bevölkerung hatten: die Einheimischen haben aufgrund ihres plötzlichen Reichtums handwerkliche und technische Berufe aufgegeben. Der erhebliche Bedarf an ungelernten Arbeitern wie auch an qualifiziertem und hochqualifiziertem Personal, der hohe Lebensstandard und die Hoffnung, von diesem Öl-Eldorado irgendwie zu profitieren, haben wahre Ströme von Arbeitskräften aus allen Kontinenten, vorwiegend aus den südlichen Ländern, in die reichen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens gezogen.

Obwohl die Immigration ausländischer Arbeiter in den 30er Jahren mit der Ausbeutung der ersten Ölvorkommen begonnen hat, blieb ihre Anzahl bis 1970 relativ niedrig. Die erste Ölkrise markiert den Beginn der stärksten internationalen Arbeitsmigration, die im Lauf der beiden letzten Jahrzehnte zu verzeichnen war. Die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte, die offiziell in arabischen Opec-Staaten leben, lag 1975 bei über 1,7 Millionen und 1980 bei 3 Millionen. Zwischen 1983 und 1985 wurde mit 6 Millionen Fremdarbeitern der Höchststand erreicht. Im Verlauf eines einzigen Jahrzehnts erreichte die Zahl der Arbeitsimmigranten in die Golfregion etwa die gleiche Höhe wie die Zahl der Gastarbeiter in der EG. Der rapide Anstieg der Ausländerzahl sagt dabei noch nichts über die ungewöhnlich hohe Mobilität der Einwanderer aus. Denn die Aufenthaltsdauer der Immigranten betrug durchschnittlich nur zwei Jahre.

Die Zeit niedriger Ölpreise zwischen 1983 und 1986, die zu einem starken Einkommensverlust der erdölexportierenden Länder und damit zu einer Drosselung oder gar Einstellung von Großprojekten führte, hatte auch einen Rückgang der Immigration zur Folge. Zeitweise kam es sogar zu einem massenhaften Exodus von Gastarbeitern in ihre Herkunftsländer. Begrenzt wurde das Ausmaß dieses Rückstroms jedoch durch den Arbeitskräftebedarf des Iran, der zwischen 1980 und 1988 einen mörderischen Krieg mit dem Irak führte.

Keine Region der Welt ist abhängiger von Arbeitsimmigranten als die Arabische Halbinsel. Das Verhältnis von Ausländern zur Gesamtbevölkerung liegt in Bahrein bei 30 Prozent, in Saudi-Arabien bei 40, in Kuwait bei 65, bei 70 in Qatar und bei 85 Prozent in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). In manchen Golfstaaten sind die Wüstensöhne längst zu Fremden im eigenen Land geworden. Man kann die demographische, ökonomische und auch psychologische Bedeutung dieses Sachverhalts durch einen Vergleich mit den westlichen Ländern ermessen. Dort wird die Immigration als äußerst sensible Frage wahrgenommen. Dabei beträgt der Anteil an Ausländern zum Beispiel in der Schweiz 15, in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland gerade 7,5 Prozent.

In absoluten Zahlen steht Saudi-Arabien mit mehr als 3 Millionen Ausländern zwischen 1987 und 1988 an erster Stelle der Aufnahmeländer. Dann folgen der Irak, 1990 zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Ausländern, Kuwait, vor der Besetzung lebten dort 1,3 Millionen, die Vereinigten Arabischen Emirate mit etwa einer Million, das Sultanat Oman mit ca. 200.000, Qatar mit etwa 100.000 und Bahrein mit 80.000 Fremden. 1985 lag beispielsweise in Kuwait der Anteil der heimischen Bevölkerung am Arbeitsmarkt bei gerade 18,6 Prozent; 81,4 Prozent aller Erwerbstätigen waren also Ausländer. Nur „Führungspositionen“ sind de facto oder de jure Einheimischen vorbehalten. Der Anteil der Nicht-Kuwaitis im Baugewerbe lag bei 98 Prozent, in Industrie und Handel bei 92, im Transportwesen bei 74, im Dienstleistungsbereich bei 66 und in der Ölindustrie bei 64 Prozent.

In allen Golfstaaten herrscht unter den ausländischen Beschäftigten eine klare Trennung nach nationaler oder ethnischer Herkunft. Im allgemeinen werden die qualifiziertesten Tätigkeiten von westlichen Arbeitskräften – in der Mehrzahl Amerikaner und Briten – ausgeübt, in zunehmender Konkurrenz zu Japanern und Koreanern. Die mittleren Posten sind Palästinensern, Libanesen und in bestimmten Bereichen Ägyptern vorbehalten. Das große Heer der wenig oder nicht qualifizierten Arbeiter schließlich stammt aus den armen Ländern der arabischen Welt – und zunehmend auch aus Asien.

Selbst auf militärischer Ebene sind die arabischen Ölstaaten auf Fremde angewiesen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten besteht sogar die Mehrheit der Armee aus Ausländern: die Offiziere sind britisch, und die Mannschaften stammen aus Pakistan, dem Jemen, aus Oman, dem Sudan, aus Marokko und Mauretanien. Insgesamt bilden nicht weniger als 23 Nationalitäten das Korps dieser „Fremdenlegion“ der Emirate.

Diese gefährliche Abhängigkeit der Golfstaaten sowie die Instabilität der gesamten Region hätte die Herrschenden dazu veranlassen müssen, eine Integrationspolitik zur Eingliederung wenigstens der arabischen Gastarbeiter zu betreiben. Und sei es nur, um die demographische und soziale Struktur dieser aus dem Gleichgewicht geratenen Länder zu stärken. Das aber war nicht der Fall. Im Gegenteil, für einen Arbeitsimmigranten war es stets ausgesprochen schwierig, die Staatsbürgerschaft des Öllandes zu bekommen, in dem er – manchmal schon seit Jahrzehnten – lebt und arbeitet. Die Lage der Palästinenser in Kuwait belegt dies eindringlich. Hieraus erklärt sich auch, warum ein Teil von ihnen ins Lager von Saddam Hussein überlief.

Die rigide ethnische und gesellschaftliche Trennung, die in den Gesellschaften der Golfstaaten herrscht, in denen jede nationale oder ethnische Einwanderergruppe in getrennten Städten, Vierteln oder gar Lagern leben muß, trägt zur weiteren Instabilität dieser auf ölhaltigen Sand gebauten Monarchien bei. aus zahlreichen Ländern Asiens hat sich der Charakter der Migration in die Golfstaaten im Laufe des letzten Jahrzehnts stark verändert. Aus Gründen kultureller und geographischer Nähe kam die große Mehrheit der einfachen Arbeiter zunächst aus den armen Ländern des Nahen Ostens. Allein aus Ägypten wanderten mehr als zwei Millionen Menschen ein. Die seit 1973 verfolgte Politik der „Infitah“, der Öffnung und Liberalisierung, hat es Millionen von Ägyptern ermöglicht, der hohen Arbeitslosigkeit im Nilland zu entgehen. Ein wahres Heer von Ägyptern setzte sich Richtung Arabische Halbinsel in Bewegung: bis zu 1,5 Millionen Menschen zogen allein in den Irak, 400.000 nach Saudi-Arabien, 150.000 nach Kuwait und gut 100.000 nach Jordanien. In den Aufnahmeländern übernahmen die Ägypter vor allem sogenannte „niedere“ Tätigkeiten. Die Palästinenser, sowohl Arbeitsmigranten wie auch Flüchtlinge, bilden die zweite große Gruppe von Einwanderern in die Golfstaaten. 300.000 wanderten in den Irak, ebenfalls 300.000 nach Kuwait und Qatar sowie gut 200.000 nach Saudi-Arabien. Aufgrund ihrer arabischen Herkunft und ihres hohen Ausbildungsniveaus besetzten sie relativ qualifizierte Stellen.

Die zahlenmäßig dritte Gruppe bilden wahrscheinlich die Jemeniten. Doch aufgrund der relativen Bewegungsfreiheit, die sie zumindest vor der irakischen Kuwait-Invasion in Saudi-Arabien genossen, ist ihre Anzahl in diesem Land nicht genau auszumachen. Schätzungen sprechen jedoch von etwa 600.000 Menschen. Größere Gruppen von Arbeitsimmigranten stammen auch aus dem Libanon. Auch aus Syrien, dem Sudan und aus Somalia strömten Gastarbeiter an den Golf. Die politische Lage, vor allem aber die hohe Arbeitslosigkeit und der kraß unterschiedliche Lebensstandard zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland – das Bruttosozialprodukt betrug 1986 pro Kopf 320 Dollar im Sudan, 6.930 Dollar in Saudi-Arabien und 14.410 Dollar in den Vereinigten Arabischen Emiraten – sind die buchstäblich treibenden Kräfte bei der Migrationsbewegung von Arbeitskräften in die Golfregion.

Asiatische Arbeiter sind noch billiger als arabische

Seit Ende der 70er Jahre sind die arabischen Arbeiter jedoch zunehmend durch Asiaten ersetzt worden. Diese stammen vor allem aus Pakistan, Indien und von den Philippinen. 1,1 Millionen Pakistanis, 900.000 Inder und eine halbe Million Filipinos leben in der Golfregion. Dazu kommen noch kleinere Gruppen von Arbeitsimmigranten aus Sri Lanka, Bangladesch, Thailand, Südkorea und sogar aus China. Dieser „ethnische Wechsel“ beruht auf dem schlichten Wunsch der Aufnahmeländer, überaus billige Arbeitskräfte zu rekrutieren. Die asiatischen Arbeiter genießen keinerlei soziale Sicherheit. Krankenversicherung, Arbeitslosengeld oder gar Rentenansprüche sind für sie Fremdwörter. Sie müssen in oftmals erbärmlichen und vollständig isolierten Ghettos ihr Dasein in totaler Abhängigkeit von Arbeitgeber und Arbeitsvermittler fristen.

Die neuen Immigrationswellen aus Asien sind aber auch ein Ergebnis des massiven Auftretens von asiatischen Unternehmen auf den Märkten des Nahen und Mittleren Ostens. Sie stehen dort in harter Konkurrenz zu westlichen Firmengruppen. Japanische, südkoreanische und chinesische Unternehmen, die sich für zahlreiche Großprojekte verpflichtet haben, bringen nicht nur ihre Ingenieure und Techniker mit, sondern auch ihre gelernten und ungelernten Arbeiter. Um dem Konjunkturtief am Golf während der Jahre der niedrigen Ölpreise zu begegnen, haben die südkoreanischen Unternehmen darauf verzichtet, Landsleute zu beschäftigen. Waren es 1981 noch 200.000 Südkoreaner, so war ihre Zahl im Jahr 1986 auf 100.000 gesunken. Statt eigener Leute beschäftigten die Koreaner nun Migrationsarbeiter aus Asien mit äußerst niedrigen Lohnkosten: Pakistanis, Srilanker, Thailänder und Chinesen. Der neue Industriestaat Südkorea ist dabei, das westliche und japanische Migrationsmodell auf die Dritte Welt zu übertragen.

Die Ereignisse am Golf haben die große Abhängigkeit der Dritten Welt von den Immigrationsländern des Nahen und Mittleren Ostens überdeutlich gemacht. Für alle Länder mit hohem Anteil an Arbeitsemigranten bilden die Einkünfte der ausgewanderten Arbeiter eine wichtige, manchmal sogar die wichtigste Devisenquelle. Millionen von Familien der Dritten Welt leben praktisch von den „Rücksendungen“ eines oder mehrerer Familienmitglieder, die in den Golfstaaten arbeiten. In Jordanien und im Jemen bilden die Überweisungen der Emigranten mehr als ein Viertel des Bruttosozialproduktes. In Ägypten erbringen diese Einkünfte ebensoviel wie der Tourismus und die Durchfahrtsgebühren des Suezkanals. 1989 waren es zwei Milliarden Dollar. Die Arbeiter in der Golfregion, bislang „nur“ den Wechselfällen einer schwankenden Ölkonjunktur ausgeliefert, erlebten mit dem irakischen Einmarsch in Kuwait nun auch die Bedrohung durch eine explosive politische Situation.

Innerhalb des ersten Monats der Golfkrise hat sich die Masseneinwanderung in einen oftmals tragischen Massenexodus verwandelt. Eine Situation, die fatal an das Jahr 1983 gemahnt. Damals, der nigerianische Traum vom schnellen und stabilen Ölreichtum war endgültig ausgeträumt, wurden zwei Millionen Ausländer aus dem westafrikanischen Staat kurzerhand rausgeworfen. Wie auch immer die Golfkrise ausgehen mag, eines ist klar: Die gegenwärtige Krise wird nicht die letzte Erschütterung der „Migrationsökonomie“ sein, die auf dem schwankenden Fundament des „schwarzen Goldes“ beruht.

Gildas Simon ist Professor für Geographie an der Universität von Poitiers und Chefredakteur der Zeitschrift Revue Europeene des Migrations Internationales.