SPANNUNGSFELD NORD-SÜD
: Wieviel Unterentwicklung kann die Welt der neunzigerJahre verkraften?

Das Ende des Kalten Krieges hat neue Möglichkeiten geschaffen, die Unterentwicklung zu überwinden. Die Vereinten Nationen müssen gestärkt werden, die bei der Abrüstung freiwerdenden Gelder sollten als Friedensdividende in die Dritte Welt fließen, die Industrieländer müssen ihren Protektionismus abbauen. Denn es gibt kein sicheres und wohlhabendes Europa ohne Gerechtigkeit auch für die Südhalbkugel.  ■ VON PIERRE SCHORI

Die Ungerechtigkeiten, die überall auf der Welt herrschen, sind eine ständige Bedrohung der Sicherheit der Nationen. In den 80er Jahren verlor man wertvolle Zeit, in der Armut sich ausbreitete und Entwicklungsbestrebungen zunichte gemacht wurden. Man versäumte es, zunehmenden ökonomischen und ökologischen Interdependenzen durch eine entsprechende Stärkung einer globalen Zusammenarbeit und Kontrolle zu begegnen. Infolgedessen sehen wir uns zu Beginn der 90er Jahre großen Risiken gegenüber.

Die revolutionären Umwälzungen in der Sowjetunion haben einzigartige Möglichkeiten für eine neue Art der Zusammenarbeit angesichts der globalen Herausforderungen geschaffen. Das Ende des Kalten Krieges ermöglicht die Freisetzung ungeheurer Ressourcen – an Arbeitskraft und Material, die noch in überdimensionierten militärischen Apparaten stecken, und – ebenso wichtig – der Köpfe vieler Menschen, die so lange durch fruchtlose ideologische Konfrontationen gebunden waren.

Ein neuer Geist der Zusammenarbeit ist auf vielen Gebieten zu sehen, möglicherweise aber nirgendwo offenkundiger als in der Neubelebung der Vereinten Nationen. Während in der zweiten Hälfte der 80er Jahre regionale Konflikte einer nach dem anderen einer Lösung zustrebten, zogen die Vereinten Nationen dort als die Friedensstifter, Friedenswächter und Friedensarchitekten ein, als die sie gedacht waren.

Während ich dies schreibe, ist mit den wachsenden Spannungen im Nahen Osten infolge der irakischen Invasion in Kuwait den Vereinten Nationen eine noch entscheidendere Rolle in der Wahrung internationalen Rechts und in der Flüchtlingshilfe zugefallen. Die Invasion hat beispiellose internationale Zusammenarbeit angesichts eines Konfliktes ausgelöst. Doch das Ergebnis ist ungewiß, und die ökonomischen Kosten sind gewaltig. Die „Friedensdividende“, die neue Reserven zur Unterstützung einer neuen Weltordnung bereitstellen könnte, läuft nun Gefahr, zu einem der großen Opfer der Golfkrise zu werden.

Dieser Konflikt hat in all seiner Komplexität deutlich gezeigt, wie sehr die Länder der Welt voneinander abhängig und wie verwundbar globaler Frieden und Sicherheit sind. Ein genauerer Blick auf seine Ursachen und Folgen würde auf ähnliche Weise die ökonomische und soziale Verwundbarkeit der Länder und Völker zeigen.

Beim Nachsinnen über die Aussichten für internationale Entwicklungszusammenarbeit zu Beginn des neuen Jahrzehnts ragt das folgende Dilemma als besonders relevant heraus: Die Möglichkeiten für Fortschritt sind größer, als sie es seit Jahrzehnten waren, aber die Bedingungen für seine Verwirklichung sind äußerst gefährdet. Wenn die Nationen der Welt nicht große Sorgfalt und Entschlossenheit walten lassen, werden die einzigartigen Möglichkeiten verlorengehen – mit großen Kosten für die Gegenwart und mit unvorstellbaren Folgen für die Zukunft.

Die 80er Jahre haben eine bedrückende Bilanz hinterlassen: Die Zahl der Menschen, die in krasser Armut leben, ist auf eine Milliarde gestiegen; das ist jeder fünfte Mensch. Jeden Tag sterben 40.000 Kinder einen unnötigen Tod, und noch in diesem Jahrzehnt werden wir mit 1,5 Milliarden neugeborenen Kindern die Geburt der größten Generation in der Geschichte des Planeten erleben. In vielen Ländern hat sich der jahrzehntelange Fortschritt auf dem Gesundheits- und Erziehungssektor verlangsamt, stellenweise hat er sich sogar ins Gegenteil verkehrt. In Afrika und Lateinamerika ist in diesem Jahrzehnt das Pro-Kopf-Einkommen kontinuierlich gefallen. In Afrika sind die ökonomischen Erfolge einer Generation mehr oder weniger zunichte gemacht worden. So gut wie keinem Land, das von der lähmenden Schuldenkrise erfaßt wurde, gelang es, aus ihr herauszukommen. Zu Beginn des Jahrzehnts gab es einen jährlichen Nettotransfer von 50 Milliarden Dollar in die Dritte Welt. An seinem Ende flossen – pro Jahr – 50 Milliarden Dollar aus ihr heraus.

Zur Zeit besteht das Risiko, daß viele Dritte-Welt-Länder marginalisiert werden, da es für sie immer schwieriger wird, mit der schnellen Entwicklung in der Weltwirtschaft mitzuhalten. Und es besteht die Gefahr, daß die Armen in den einzelnen Ländern noch weiter marginalisiert werden, als sie es heute schon sind, daß sie mehr denn je in dem Teufelskreis der Armut gefangen werden. Diese Ungerechtigkeiten sind ein empörender Verstoß gegen die Moral – und überall eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit.

Kein Wunder, daß viele Menschen in der Dritten Welt sagen: Die Weltpolitik mag vielleicht menschlicher geworden sein, für Millionen jedoch ist die Wirtschaft unmenschlicher geworden. Und mit dem ehemaligen Präsidenten von Uruguay, Sanguinetti, könnten sie sagen: Ihr bittet uns, demokratisch zu werden, doch eure Wirtschaftspolitik hilft den Feinden der Demokratie.

Jene im Norden, die meinen, sie könnten ungeachtet dieser Punkte einfach weiter ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen, müssen erneut nachdenken. Das Wohlergehen des Nordens wird von der zunehmenden Interdependenz nicht unberührt bleiben. Die Ökologie und der Druck der Migrationsströme machen dies für mehr und mehr Menschen deutlich.

Wir müssen uns die Frage stellen: Wieviel Armut kann eine Demokratie aushalten, wieviel Unterentwicklung kann die globale Sicherheit verkraften?

Ein ungetrübter Blick auf die Versäumnisse der 80er Jahre darf uns nicht davon abhalten, eine ebenso wichtige Tatsache zu erkennen, die dem vorhergehenden scheinbar widerspricht – das durchaus vorhandene und wachsende Potential der Dritten Welt.

Längerfristig gesehen, war der Fortschritt der Entwicklungsländer kräftig und überzeugend. Die Fortschritte auf dem Gesundheits- und Bildungssektor – die Lebenserwartung stieg von 46 Jahren 1960 auf 62 Jahre 1987, und die Analphabetenquote fiel von 57 Prozent 1970 auf 40 Prozent 1985 – haben menschliche Fähigkeiten und Potentiale gestärkt. Das Wirtschaftswachstum für die Entwicklungsländer insgesamt war über die Jahrzehnte hinweg stark, in der Tat schneller als das der entwickelten Länder während ihrer langen Industrialisierungszeit.

Sogar die schwierigen 80er Jahre brachten einem großen Teil der unterentwickelten Welt ein starkes Wirtschaftswachstum, darunter auch dem größten Teil des bevölkerungsreichen Asien. Eine Anzahl von Entwicklungsländern verfügen inzwischen über bedeutende Ökonomien, die in der Weltwirtschaft eine wichtige Rolle spielen.

Auch politisch finden in der Dritten Welt bedeutsame Veränderungen statt. In praktisch allen Teilen der Welt reorganisieren Staaten ihre wirtschaftlichen und politischen Systeme. In Lateinamerika befreite sich ein Land nach dem anderen von seinen alten Militärregimen. Demokratie und Menschenrechte sind zunehmend stärker als Werte anerkannt worden. Die Versäumnisse der 80er Jahre mögen zwar noch zu politischen Rückschlägen, zum Populismus oder Extremismus führen; doch wächst aus der Enttäuschung über die Vergangenheit die Einsicht in die Notwendigkeit verantwortungsvollen Regierens.

Es gibt keinen Zweifel, daß es trotz der vielen düsteren Aspekte der 80er Jahre eine Dynamik in der Entwicklung der Dritten Welt gibt. Dort, wo Länder es geschafft haben, eine Grundlage für wirksame Entwicklungspolitik im weitesten Sinne zu schaffen, gab es auch Entwicklung. Es gibt daher meiner Ansicht nach auf lange Sicht keinen Grund zur Enttäuschung. Entwicklung ist möglich, und die Entwicklungsländer werden mit Sicherheit eine immer zentralere Rolle dabei spielen, die Zukunft dieser Welt zu bestimmen.

Wenn es darum geht, Entwicklung zu ermöglichen, kann nichts die politische Grundlage ersetzen, die nur die Entwicklungsländer selber schaffen können. Aber ebenso eindeutig hat das internationale wirtschaftliche Umfeld große Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Entwicklungsländer. Dieses durch verstärkte internationale Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern, ist ein unbedingtes Erfordernis. Das Programm ist bekannt – wie leider auch sein langsamer Fortschritt.

Protektionismus muß reduziert werden. Die Handelsschranken der industrialisierten Welt kosten die Entwicklungsländer heute in Form verringerter Exporteinnahmen bei weitem mehr, als sie an Entwicklungshilfe bekommen.

Das Abfließen der Ressourcen in großem Maßstab aus den Entwicklungsländern muß gestoppt werden. Nach langer Verzögerung wurde endlich erkannt, daß die Reduzierung der Schulden ein notwendiger Teil der internationalen Schuldenstrategie sein muß. Aber es bedarf stärkerer Maßnahmen, ehe erneute Investitionen beginnen können, den durch ein Jahrzehnt der Krise entstandenen Schaden zu beheben.

Internationale Entwicklungshilfe kann niemals die Versäumnisse des weltwirtschaftlichen Umfeldes wettmachen, doch wird sie für eine geraume Zeit noch ein wichtiges Instrument sein, um die Welt gerechter und sicherer zu gestalten. Aufgrund unserer jahrzehntelangen Erfahrungen wissen wir, daß wir mit Hilfsleistungen Armut bekämpfen können, daß sie wirksam eingesetzt werden können, um die Fähigkeiten der Menschen zu stärken.

Es ist daher äußerst bestürzend, daß die Anstrengungen der reichen Welt im Laufe der 80er Jahre abgenommen haben, bis auf den jetzigen Tiefststand von durchschnittlich 0,33 Prozent ihres Bruttosozialproduktes. Nur eine Handvoll kleiner Länder hat die Höhe ihrer Hilfszahlungen beibehalten oder angehoben, um den weltweit übernommenen Zielen der Vereinten Nationen zu entsprechen und sie zu übertreffen. Schweden widmet seit 15 Jahren ein Prozent seines Bruttosozialproduktes der Entwicklungshilfe.

Entwicklungsbeihilfe ist nicht die Lösung, aber sie ist ein Teil davon. Und sie ist sicherlich ein moralischer Gradmesser für die reichen Länder.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entdecken wir nun auch in Europa eine Nord-Süd-Dimension. Im schlimmsten Falle wird die Oder-Neiße zu einem neuen

Rio Grande, zu einer neuen Trennlinie zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. Wir müssen dieser Bedrohung mit mehr Solidarität der europäischen Länder entgegentreten und die Ansicht zurückweisen, daß soziale Reformen und soziale Gerechtigkeit verschoben werden müssen, bis „die Zauberkräfte des Marktes“ beginnen, Ergebnisse zu zeitigen. Dies ist eine wichtige Aufgabe innerhalb Europas und sollte nicht als Widerspruch zur Solidarität mit der Dritten Welt gesehen werden. Wir müssen das europäische Haus in Ordnung bringen. Das ist für Frieden, Stabilität und Entwicklung auf unserem Kontinent notwendig, aber auch, um Möglichkeiten zu schaffen, die Zusammenarbeit Europas mit anderen Kontinenten zu verstärken. Die Idee der Palme- Kommission, die Verpflichtung zu „gemeinsamer Sicherheit“, macht Fortschritte. Wenn wir diese gemeinsame Sicherheit in der Welt wollen, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die Vorstellungen der Brandt- und der Brundlandt-Kommission ebenso verwirklicht werden müssen. Wir können heute nicht vorhersehen, wie die Länder der Welt all die drängenden Entwicklungs- und Umweltfragen angehen werden. Mit Sicherheit werden sie jedoch nicht umhinkönnen, die internationalen Institutionen zu stärken, die als Foren für eine internationale Zusammenarbeit dienen. Es ist unhaltbar, daß eine kleine Anzahl reicher Länder weiterhin Ablauf und Regeln des Spiels bestimmen. Eine wirkliche globale Zusammenarbeitsstruktur wird notwendig werden. Dafür bedarf es einer weit wirksameren Süd-Süd-Zusammenarbeit als bisher.

Die politische Öffnung zwischen Ost und West hat die Möglichkeiten einer erneuerten globalen Zusammenarbeit geschaffen. Die Gelegenheiten sind gegeben. Sie sind gefährdet, aber sie sind real. Und sie müssen genutzt werden. Denn wir können kein sicheres und wohlhabendes Europa bauen ohne Frieden, Gerechtigkeit und Entwicklung auch in Lateinamerika, Asien und Afrika.

Pierre Schori ist Kabinettssekretär im schwedischen Außenministerium und seit den siebziger Jahren einer der Vordenker für die Lateinamerikapolitik der Sozialistischen Internationale.