SPANNUNGSFELD NORD-SÜD
: Brasilien setzt auf seine intelligente „Leadership“

■ Interview mit dem brasilianischen Außenminister FRANCISCO REZEK

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Francisco Rezek: Sicherlich nicht. Die Bedeutung dieser beiden Staaten ist nicht nur die Folge ihrer Rivalität und ihrer militärischen Macht gewesen. Wir dürfen nicht die Festigkeit der nordamerikanischen und der russischen Zivilisationen vergessen. Beide Länder werden immer eine privilegierte Position in der Weltpolitik behalten, wenn auch nicht unbedingt als Hegemonialmächte. Insbesondere die Sowjetunion ist sich völlig darüber im klaren, wie zwingend das Aufgeben des Hegemonie-Anspruchs ist. Dieser Hegemonie-Verlust und die Horizontalität der zwischenstaatlichen Beziehungen ist – neben Parteienpluralismus und Marktwirtschaft – genau einer der drei Pfeiler, auf denen die in Osteuropa angebrochene Epoche ruht.

Die Rivalität der beiden Supermächte verschwindet natürlich mit dem Ende des Kalten Krieges. Der internationale Wettbewerb findet heute vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet statt, was eine durchaus gesunde Situation ist. Die jüngst von Präsident Bush lancierte „Initiative für die Amerikas“ etwa hat viel mit dieser neuen Situation zu tun. Indem er sich an Lateinamerika erinnert und eine große Initiative zur wirtschaftlichen Integration und Zusammenarbeit vorschlägt, will der amerikanische Präsident Westeuropa zeigen, daß auch wir in den Amerikas uns wirtschaftlich zusammenschließen können.

Für die Länder Lateinamerikas ist dies eine gute Entwicklung. Wir wissen, daß der Bush-Vorschlag in Europa Konkurrenzdenken wecken kann, aus dem wir Vorteile ziehen können. Wenn sich sowohl die USA wie auch Westeuropa wirtschaftlich für uns interessieren, dann wird der große Nutznießer dieser Rivalität der internationale Handel und Lateinamerika als Region sein.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Die Frage kann man so nicht stellen. Es gibt keine Rückkehr zu dem, was die die beiden Großmächte während des Kalten Krieges verkörpert haben. Zum Glück für die Welt wird niemand die Rolle dieser wechselseitigen Großtuerei, dieser Sicherheitsbesessenheit und der überdimensionierten Militärausgaben übernehmen. Die beiden Großen werden daher nicht ersetzt werden. Was die Wirtschaftskraft angeht, haben sie mit Europa und Japan bereits starke Konkurrenz – und ich hoffe sehr, bald auch von anderen Wirtschaftszentren.

Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?

Das glaube ich nicht. Die extremen Nationalismen waren das Resultat von Traumata, von aufgestauten Ressentiments. Ich glaube nicht, daß sich dies wiederholen kann. Im Westen beispielsweise sehe ich keine Situation, die in einen solchen Nationalismus münden kann; die Idee einer neuen „deutschen Gefahr“ nach der Vereinigung ist völlig aus der Luft gegriffen. Allein der Nahe Osten ist für solche extremen Nationalismen anfällig. Ich glaube, mit dem, was dort geschieht, wird die Welt nicht in Frieden schlafen können. Das Golfproblem ist vorübergehender Natur.Wenn ein Volk dauerhaft erniedrigt wird – ich meine damit vor allem die Palästinenser –, dann kann das nur den Isolationismus und die Revolte befördern.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?

Ich erwarte keine großen Spannungen für die neunziger Jahre. Am wahrscheinlichsten sind wirtschaftliche Konkurrenzsituationen, in denen vor allem Nord gegen Nord stehen wird. Nehmen wir beispielsweise die gegenwärtige Uruguay-Runde des Gatt: Der Konflikt über die Agrarsubventionen wird ausgefochten zwischen den USA – die in diesem Fall auf die Solidarität Lateinamerikas zählen können – und den Westeuropäern.

Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?

Die Palästinenserfrage ist das einzige wirklich schwere Problem und verdiente all unsere Aufmerksamkeit. Alle anderen, sei es die Ulster-Problematik, die Streitfragen in Afrika oder selbst die Golfkrise, können mit einem Minimum an gutem Willen gelöst werden. In Lateinamerika könnte man nicht ein einziges Problem dieser Art – und sei es nur als Symbol! – benennen. Es bliebe höchstens die politische Entwicklung in Kuba, aber das wird seinen normalen Gang gehen.

Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?

Die wirtschaftliche Stärke wird entscheidend sein, sicherlich nicht das Militärische oder das Ideologische. Aber auch als dominierender Faktor wird die Wirtschaft nur die Grundlage sein, auf der die dazu fähigen Länder versucht sein werden, ihre kulturelle Ausstrahlung und die Verbreitung ihrer Werte zu sichern.

Europa wird – insbesondere in Lateinamerika – noch immer als das kulturelle Zentrum angesehen. Wir bauen in starkem Maße auf unser romanisches und iberisches Erbe, und wir wollen daher diese Idee von Europa erhalten. Unser Verhältnis zu den USA hingegen war immer polemisch. Man wird in Lateinamerika keine antieuropäischen Strömungen in der Politik finden, antiamerikanische hingegen existieren zuhauf. Das heißt: Ich sehe keine zunehmende Ausstrahlung Europas. Könnte die denn noch größer sein, als sie es jetzt schon ist?

Ich denke, die geistigen und kulturellen Zentren im Osten – die chinesische und die japanische Zivilisation vor allem – werden eine gewisse Aufwertung erfahren. In Europa selbst erwarte ich eine Stärkung und Renaissance der russischen Kultur, die in den letzten Jahrzehnten verschüttet war. Ich glaube auch an eine Ausdehnung des kulturellen Einflusses von Lateinamerika und – wegen der gegenwärtigen politischen Hindernisse auf sehr lange Sicht – der arabischen Zivilisation.

Welche besondere Rolle sehen Sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?

Brasilien hat – und zwar ein für allemal – den Weg der Demokratie, des Pluralismus und der absoluten politischen und wirtschaftlichen Öffnung eingeschlagen. Unsere Zukunft liegt in der Demokratisierung unserer sozialen Verhältnisse. Es geht darum, daß eine wachsende Zahl Brasilianer Zugang zu dem Wohlstand finden, den bereits einige Millionen ihrer Landsleute genießen – aber es fehlen noch Dutzende von Millionen!

Was unsere Nachbarn angeht, sind unsere Beziehungen in korrekter – ich würde sogar sagen: intelligenter – Form daran orientiert gewesen, daß Brasilien nie seine relative Bedeutung hervorstellen mußte. Ganz Lateinamerika erkennt Brasilien als Land von entscheidendem Gewicht an und daß die Positionen Brasiliens immer mehr Einfluß haben als die der regionalen Partner. Wir stellen fest, daß es die anderen Länder sind, die die brasilianische Führung fordern. Diese kluge Art, unsere „Leadership“ – nicht Hegemonie – auszuüben, werden wir fortsetzen und festigen.