DAS KÜNFTIGE EUROPA: Das Elend Ostmitteleuropas
Den vom Neostalinismus befreiten Ländern Ostmitteleuropas droht nun das Abgleiten in einen rechtsextremen Nationalismus. Die liberalen Ideen des Westens wurden unter der kommunistischen Herrschaft verstümmelt, und die sozialistischen Ideale sind diskreditiert: Das Feld ist frei für Demagogen, die die liberale und linke Opposition als antinationale „Juden und Kosmopoliten“ denunzieren. Nährboden ist die sich ausbreitende Verunsicherung in der Gesellschaft. ■ VON IMRE MARTON
In Verkennung der Geschichte neigt der Westen zu einer gewissen Herablassung gegenüber der demokratischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit der „Perser“ des Balkans. Damit schiebt der Westen jegliche Verantwortung für die sozialen und ideologischen Zerrüttungen von sich, deren Verursacher und Förderer er immer wieder gewesen ist. Die Länder des Ostens hingegen haben die Zwangsvorstellung, daß ihre Geschichte unter einem Unglücksstern steht; ein Minderwertigkeitskomplex, der sie zur politischen Hysterie führt. Die Länder des Westens sind keine Helden der Demokratie ohne Furcht und Tadel. Die Völker des Ostens sind keine unschuldigen Opfer einer historischen Verfluchung.
Um die Umwälzungen, Fortschritte, Rückfälle, Zweideutigkeiten und Winkelzüge beurteilen zu können, müssen die historischen und sozioökonomischen Prozesse betrachtet werden, die zu der Deformierung der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa geführt haben. In seinem Vorwort zu dem Buch Die drei Europa des ungarischen Historikers Jeno Szucs bemerkt Fernand Braudel: „Die drei Europa bilden ein Schema, ein originelles Paradigma der komplizierten Geschichte unseres Kontinents. Europa wird darin unterteilt in den Westen, in Mittelosteuropa und in Osteuropa (das russische Imperium). Zwischen ihnen gelegen, neigt sich Mittelosteuropa jeweils dem einen oder dem anderen seiner Nachbarn zu. An diesem Hin und Her, das seine Strukturen zugrunde richtet, leidet das mittlere Europa, und es gelingt ihm nicht, sich selbst zu finden, sich zu vollenden. Seine Nachbarn umschließen es, halten es gefangen.“ Die nationalen Gemeinschaften dieser Region können sich erst in dem Moment als Nationalstaaten konstituieren, in dem das österreichisch-ungarische Imperium nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbricht.
In seiner Studie Das Elend der Kleinstaaten Osteuropas besteht Istvan Bibo auf der Vorstellung, daß die Nation eine politische Einheit ist. Sein Ausgangspunkt ist ein staatlicher Rahmen, dessen sich ein von demokratischen und nationalen Gefühlen beseeltes Volk bemächtigt. Die nationalistischen Feindseligkeiten der Region sind die Folge großer geschichtlicher Ereignisse gewesen, die die politische Vorstellungskraft der mitteleuropäischen Völker entscheidend geprägt haben. Es entstand eine Trennung zwischen den nationalen Bestrebungen und den demokratischen Bewegungen sozialer Emanzipation, die Bibo mit dem Begriff des antidemokratischen Nationalismus faßt.
Die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg im Friedensvertrag von Trianon hatten eine Deformierung der Nationalstaaten zur Folge; der Vertrag war ungerecht, weil er bei der Festlegung der Grenzen weder historische Traditionen noch die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung berücksichtigte. Trianon hat Ungarn Hitler in die Arme getrieben. Jalta und der Vertrag von Paris haben Ostmitteleuropa Stalin in die Arme getrieben. Die Wiedervereinigung Europas, die Rückkehr Mitteleuropas zu einem historischen Kurs der Demokratisierung und Modernisierung, der Stärkung der zivilen Gesellschaft gegenüber der politischen Gesellschaft, wurde unmöglich. Der antidemokratische Nationalismus hat fraglos nationale Ursachen, aber auch und vor allem internationale.
Darüber hinaus ist auch der globale Rahmen zu sehen, der immer noch an der alten, sich derzeit umgestaltenden Weltordnung klebt. Hat der Westen, und vor allem: hat Westeuropa wirklich ein Interesse daran, die Aufspaltung Europas in drei Regionen schrittweise zu überwinden? Ist der Wille vorhanden, eine europäische Einheit aufzubauen, die die juristische und soziale Demokratisierung vorantreibt, wieder ein Gleichgewicht zwischen den Nationen herstellt, sie zusammenschweißt und sie für die Konkurrenz mit den USA und Japan stärkt, so daß Europa wieder die treibende Kraft eines neuen Zeitalters der Aufklärung wird? Wird die Sowjetunion zum Förderer eines neuen gesellschaftlichen Projekts werden, oder wird sie zusammen mit dem wiedervereinigten Deutschland die Achse einer neuen heiligen Allianz europäischen und globalen Maßstabs? Werden die Länder Ostmitteleuropas und des Südens unter die Dampfwalze der Großmächte geraten, einer Globalisierung unterworfen, die eine zugespitzte negative Interdependenz mit sich bringt? Wird eine transnationale Regulierung die nationalen und sozialen Spannungen abmildern oder verschärfen?
Die Ideale des Sozialismus, der Linken, sind diskreditiert worden und haben sich selbst diskreditiert; und die liberaldemokratischen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts wurden unterdrückt und verfolgt und blieben nur in einem bestimmten sozialen Milieu lebendig. Die rückschrittlichen Kräfte der extremen Rechten sind daher in einer besseren Position, um die Unzufriedenheit, die Verunsicherung und die ängstliche Passivität der Massen für sich zu gewinnen.
Aus Angst vor sozialem Abstieg und Deklassierung, vor Arbeitslosigkeit und der Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse können die Rentner, die Arbeiter mit niedrigen Löhnen, die marginalisierten Jugendlichen oder die Arbeitslosen zur sozialen Reserve der populistischen Bewegungen werden. Die Demagogen des antidemokratischen Nationalismus werden versuchen, den Patriotismus in Irredentismus umzulenken, die demokratischen Prinzipien umzufunktionieren, um die Kritik der liberalen und linken Opposition als gegen das Volk gerichtete, antinationale Aktivitäten von Juden und Kosmopoliten zu denunzieren.
Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft sieht sich schwerwiegenden, aus der vorangehenden Epoche ererbten ökonomischen, politischen, kulturellen und strukturellen Dysfunktionalitäten gegenüber: der Auflösung der Austauschbeziehungen im COMECON, den Unsicherheiten und den Verrottungstendenzen in der Sphäre der Produktion, der Neuverteilung der Unternehmen, der zunehmenden Lähmung des Verwaltungsapparats, dem konstanten Verfall der nationalen Währungen, der Wiederkehr der Kriminalität und der Resignation der Menschen, die sich ohnmächtig fühlen angesichts der drohenden Gefahren. Sie haben den Glauben an die Zukunft verloren, denn der Fortschritt findet statt in einem unendlich scheinenden Tunnel, der tatsächlich unendlich sein könnte. Angst breitet sich aus. Unsere Gesellschaften sehen sich neuen Traumata gegenüber. Pathologische Gesellschaften wie die unseren sind nicht reif, um die Konfrontation mit den neuen Verwerfungen und Umwälzungen, die in neue Sackgassen zu führen drohen, positiv umzusetzen.
So lassen sich die entscheidenden Probleme für die Gesellschaften und Regierungen Osteuropas benennen, von deren Bewältigung die Demokratisierung dieser Länder abhängt:
1.Die Reprivatisierung und die Privatisierung der Wirtschaft. Die gegenwärtigen Regierungen treten auf der Stelle, versuchen Zeit zu gewinnen und schaffen eine ganze Reihe von Organismen unter der Obhut der Regierung, um die Macht der Exekutive zu stärken. Sie sehen sich dazu gezwungen, in gewissem Maße die alten Strukturen und Mechanismen zu erhalten, während sie gleichzeitig die Zwänge und Forderungen der Europäischen Gemeinschaft und des IWF berücksichtigen müssen. Um sich in den Augen der Massen nicht zu diskreditieren, scheuen sie sich im allgemeinen vor einer Schocktherapie, die der Bevölkerung große Ofer abverlangt; aber sie sind unfähig, die Wirtschaft zu sanieren, die Inflation zu bremsen oder das System der Reproduktion zu normalisieren, das sich in einem chaotischen Zustand befindet. Sie treiben mehr die Tendenzen des Zerfalls voran als die des Aufbaus.
2.Das Verhältnis zu den Vorkriegsregierungen. Man schweigt über den antidemokratischen Charakter der meisten, ihre rassistische und antisemitische Ideologie, ihren Irredentismus und über das armselige Los der landlosen Bauern und des Großteils der Lohnempfänger. 1945 herrschte eine Verwirrung der Geister. Die Sowjetunion hatte uns befreit und besetzt. Die Sowjetisierung hat den Antisowjetismus gestärkt und die nationalen Erhebungen gegen die sowjetische Unterdrückung heraufbeschworen. Nach dem Fall der kommunistischen Herrschaft versucht man beispielsweise in Ungarn, die Rolle der ungarischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite Hitler-Deutschlands in den Krieg gegen die UdSSR zog, umzuinterpretieren. Der Vorsitzende der Nationalversammlung, Abgeordneter des Demokratischen Forums und früher Generalstabschef von Miklos Horthy, erklärte in einer Parlamentsrede, daß die ungarische Armee einen gerechten Krieg gegen die Sowjetunion geführt habe, da es im Grunde ein Krieg gegen den Kommunismus gewesen sei.
3.Die Glaubensfreiheit und die Rückkehr des Religiösen. Die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, sind in die Offensive gegangen. In etlichen Ländern haben sie das Recht erhalten, in den öffentlichen Schulen wieder Religionsunterricht zu geben. Zwar nicht als Pflichtfach, aber dennoch bleibt die Frage, wie man sich den Kindern gegenüber verhalten wird, deren Eltern an der laizistischen Tradition festhalten wollen. Werden die Juden, die gegenüber der christlichen Gemeinschaft offen an ihrer Relgion festhalten, erneut dem Antisemitismus ausgesetzt sein? Man führt Glaubensfreiheit ein, die sich dabei zu religiöser Intoleranz verbiegt und die Quelle für neue Spannungen wird.
4.Die Säuberungsaktionen und Hexenjagden. Einige Regierungen zeigen deutliche Zeichen von Intoleranz. Sie kritisieren die Presse, das Radio und das Fernsehen für ihre „unobjektive“ Berichterstattung und erklären, daß die meisten Journalisten statt der überzogenen Kritik heute zuallererst Selbstkritik ob des von ihnen gestern Geschriebenen üben sollten.
Ein Damoklesschwert schwebt noch immer über den Köpfen all derer, die verantwortliche Posten innehatten, seien sie auch noch so unbedeutend gewesen. Parteimitglied gewesen zu sein wird zur echten Sünde. Wird in Zukunft über das Verbleiben von Funktionären in der öffentlichen Verwaltung nach den Kriterien der Zugehörigkeit zu den Parteien an der Macht entschieden werden oder nach ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer menschlichen Qualität?
5.Die nationalen Minderheiten. Das Nichtübereinstimmen der staatlichen mit den ethnischen Grenzen schürt die nationalen Feindschaften um so mehr, als die demokratischen Rechte nicht konsequent auf die nationalen Minderheiten ausgeweitet werden. Wenn der Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie sichtbare Erfolge zeigt, wenn das Abgleiten in den Rechtsextremismus verhindert werden kann und wenn die Eingliederung in den Europäischen Rat und den gemeinsamen Markt nicht zu lange auf sich warten läßt, wird man unter dem Druck der paneuropäischen Entwicklung gezwungen sein, einen Kompromiß zu finden, der die demokratischen Rechte der nationalen Minderheiten garantiert.
6.Die Geburt liberaler Strömungen und einer erneuerten Linken. Als politische Bewegung hat sich die Linke diskreditiert; aber ihre Ideale einer sozialen Demokratie, das Gesellschaftsprojekt einer Emanzipation des Menschen prägen noch immer das Denken vieler Intellektueller und Arbeiter. In einigen Jahren können die Parteien der Linken zum Sammelbecken einer eigenständigen Variante der Sozialdemokratie werden. Verschiedene Gewerkschaftsverbände versuchen einen gemeinsamen Nenner zu finden, um die Interessen der Lohnempfänger zu vertreten. In Westeuropa war es der Kampf der Massen, der zur Demokratisierung des demokratischen Systems geführt hat, die bis zu einem gewissen Grad die Gesamtheit der Gesellschaft in die politische Gesellschaft – in die Ausübung und Kontrolle der Macht – integriert hat. Den Verfechtern eines demokratischen Liberalismus und der Linken fehlt es derzeit noch an Kampfgeist. Die Sammlungsbewegung verfügt über keine ausgedehnten Netze, aber neue Traditionen der Toleranz und der Demokratie werden gewoben. Werden sie genug Zeit haben, um sich zu verwurzeln, um ein Gegengewicht zu den Kräften zu bilden, die den Demokratisierungsprozeß bedrohen?
Im Augenblick ist die Hauptgefahr nicht die Intoleranz, sondern das apolitische Verhalten, die Lethargie der Massen, die zu einem Trampolin für Willkür und Intoleranz werden können. Die Wahlbeteiligung ist in etlichen Ländern sehr niedrig, ebenso die Mitgliederstärke der Parteien. Wenige wollen sich an ihnen beteiligen, sich politisch einmischen. Mißtrauisch- Bleiben und Abwarten scheint das beste Rezept zu sein, um den eigenen Schutzpanzer zu stärken und sich einen Rettungsring zu sichern. Auf kurze Sicht wird der Druck der Rechten zunehmen. Die entscheidende Frage für die Zukunft der Demokratie ist, wie die jetzt Passiven, die Nichtwähler, reagieren werden.
Der Pragmatismus verlangt von den Regierungen und der Opposition, mit Weisheit, Zurückhaltung und Geduld, mit List und mit Kühnheit alle ihre Anstrengungen zusammenzuführen, um das Schlimmste zu verhindern: das Abgleiten in den Rechtsextremismus oder die völlige Auflösung der Gesellschaft; und auch daß sie sich damit begnügen, nur das kleinere Übel tun zu können: die Regulierung der Widersprüche, die man nicht lösen kann, außer in einem langen, schrittweisen und schmerzhaften Prozeß inmitten eines turbulenten Umfelds.
Imre Marton ist Professor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Budapest.
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