DAS KÜNFTIGE EUROPA
: Frieden – ein Großexperiment

Eine Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent kommt nicht von alleine – sie ist erst noch zu stiften. Nur ein Geflecht gesamteuropäischer Institutionen kann die Gefahr kriegerischer Gewalt dauerhaft beenden. Damit ethno-nationale Konflikte nicht aufflammen, muß gemeinschaftlichen Identitätsbedürfnissen Freiraum gelassen werden.  ■ VON DIETER SENGHAAS

Die Völker Europas haben in den neunziger Jahren die große Chance, eine gesamteuropäische Struktur dauerhaften Friedens aufzubauen:

1. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes besteht die Möglichkeit, daß sich in Europa ein einheitlicher Rechtsraum entwickelt, in dem sich die politischen Ordnungen der Einzelstaaten am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie orientieren. Überdies bildet sich derzeit eine weitgehende Übereinstimmung darüber heraus, daß moderne Ökonomien der marktwirtschaftlichen Steuerung bedürfen. Auch wird erkannt, daß eine solche politische und wirtschaftliche Ordnung nur dann von den Bevölkerungen als legitim akzeptiert wird, wenn eine aktive Politik der Verteilungsgerechtigkeit betrieben wird. Auf diesem Hintergrund wird realisierbar, was Kant in seinem Friedensentwurf einen „Friedensbund“ zwischen souveränen Republiken genannt hat und was in der neueren friedenswissenschaftlichen Diskussion als „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ (K.W.Deutsch) bezeichnet wurde.

2. Die Summe rechtsstaatlich verfaßter Einzelstaaten übersetzt sich aber keineswegs automatisch in einen Friedensbund bzw. in eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft. Eine Friedensordnung zwischen den Völkern muß, wie auch Kant zu Recht betonte, gestiftet werden. Dazu bedarf es zuallererst spezifischer Vorkehrungen auf der Ebene des Staatenverkehrs: Werden die Einzelstaaten miteinander institutionell derart verkoppelt, daß es zu einer wechselseitigen Voraussagbarkeit ihrer Motive und Handlungen kommt, und sind die Netze der Kooperation so dicht, daß aus ihnen Zwänge zur Koordination und Konzertierung politischen Verhaltens erwachsen, verliert das zwischen souveränen Einzelstaaten bestehende Sicherheitsdilemma an politischer Bedeutung und Brisanz. An seine Stelle treten eine welchselseitige Erwartungsverläßlichkeit, politische Berechenbarkeit und Transparenz. Es findet dann eine allseitige Einbettung in ein zunächst breitmaschiges, im Laufe der Zeit immer engmaschiger werdendes Netz institutionalisierter Kooperation statt. In der Folge werden nationalistische Ausbruchsversuche schwierig und vor allem konterproduktiv; schließlich werden sie unterbleiben. Die Erfahrungen in der EG weisen deutlich in eine solche Richtung.

Von diesem Gesichtspunkt her können die derzeitigen Bemühungen um den Aufbau neuer gesamteuropäischer Institutionen der politischen Koordination und Konzertierung nicht hoch genug eingestuft werden. Dabei ist wichtig, daß neue Institutionen (wie beispielsweise eine institutionalisierte KSZE) mit wirklichen Kompetenzen ausgestattet werden und damit eine effektive Bedeutung erlangen. Solche gemeinsamen Institutionen sind im postkommunistischen Europa erreichbar.

3. Auch gesamteuropäische Institutionen werden (wie politische Institutionen überhaupt) nur dann von Dauer sein, wenn es gelingt, daß sie als faire Plattform für die Belange aller beteiligten Staaten, insbesondere der schwächeren, genutzt werden können. Mit solchen Institutionen muß sich die realistische Erwartung eines Gewinns an politischen und/oder materiellen Gütern verbinden (Sicherheit, Demokratie, Wohlfahrt). Werden solche Erwartungen anhaltend enttäuscht, können sich verläßliche neue Loyalitäten gegenüber solchen Institutionen nicht herausbilden. Es kommt also darauf an, daß die Netze der Kooperation zu einer Politik führen, die für die breite Bevölkerung einen erkennbaren Ertrag abwirft.

II.

Ein solcher Ertrag könnte in den folgenden Leistungen bestehen:

1.Prinzipielle Eliminierung des Krieges als Mittel der Politik

Läßt sich in Europa eine politisch-institutionelle Vernetzung im vorgenannten Sinne verläßlich zustande bringen, würde dies bedeuten, daß wenigstens in diesem Teil der Welt die Wahrscheinlichkeit des Rückgriffs auf kriegerische Gewalt zur Durchsetzung nationaler Interessen äußerst gering, wenn nicht gar gleich null würde. Das wäre prinzipiell eine andere Situation als in der Abschreckungskonstellation, in der Gewalt, wenn alles gut geht, als Ergebnis einer wechselseitigen Vernichtungsdrohung verhindert wird. Auch würde in der neuen Konstellation die klassische, militärisch begründete Sicherheitspolitik nur noch eine ganz begrenzte Rolle am Rande haben. Residuale Militärpotentiale würden im Laufe der Zeit in ein System kooperativer/kollektiver Sicherheit eingebracht und stünden nicht mehr nationalem Zugriff offen. Vorstellbar ist der Aufbau einer Europäischen Friedenstruppe, die wie internationale peace keeping forces auf die Bewältigung von Grenzfällen ausgerichtet wäre. Im allgemeinen kann jedoch davon ausgegangen werden, daß, je dichter das politisch-institutionelle Netz der Kooperation ist, umso mehr Sicherheit politisch hergestellt wird und umso weniger würden die klassischen Mittel militärischer Sicherheitspolitik noch von Bedeutung sein.

2.Stabilisierung des Demokratisierungsprozesses

In Osteuropa wird der politische Umbruch an der Wende 1989/90 als eine „Rückkehr nach Europa“ empfunden. Damit ist eine Orientierung an den ordnungspolitischen Prinzipien des liberalen Rechtstaates und pluralistischer Demokratie gemeint.

Der Erfolg der Demokratisierungsprozesse in Osteuropa ist allerdings keineswegs sicher: In allen Gesellschaften ist mit dem Widerstand der politischen Kräfte des ancien régime zu rechnen. Mit Ausnahme der CSFR hat es nirgendwo in Osteuropa vor der stalinistischen Despotie durchgängig intakte demokratische Traditionen gegeben. Und die stalinistische Despotie verhinderte rigoros die Selbstorganisation der Gesellschaften: Alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens waren, wie in etatistisch strukturierten Gesellschaften weltweit üblich, auf den jeweiligen Partei- und Staatsapparat ausgerichtet. Das Ende dieser Zwangsordnung bedeutet zugleich den Beginn eines schwierigen Prozesses der neuerlichen Selbstorganisation von Gesellschaft, vermittels derer sich politische, kulturelle, soziale und ökonomische Identitäten und Interessen herausbilden und ein eigenes politisches Gewicht erlangen. Daß sich dabei zunächst eine politische Unübersichtlichkeit einstellt, kann nicht verwundern. Nicht weniger erstaunlich ist jedoch, wie schnell sich als Ergebnis der ersten freien Wahlen die politischen Fronten einigermaßen geklärt haben. Für die sich demokratisierenden Staaten Ost- und Südosteuropas bedeutet eine Einbettung in gesamteuropäische Institutionen eine Art von Rückversicherung für den erfolgreichen Fortgang des Demokratisierungsprozesses. Hier wäre an die Parallelen beim Übergang der diktatorischen Regime in Spanien, Portugal und Griechenland zur Demokratie zu erinnern: Auch in diesen Gesellschaften war die Rückbindung der demokratischen Kräfte an das demokratische Westeuropa für den jeweiligen Demokratisierungsprozeß hilfreich.

3.“Gleichgewicht des Besitzes,

bei dem jeder sich erträglich findet“ (J.G.Fichte)

Auch wenn sich in Europa das klassische Sicherheitsdilemma politisch-institutionell bewältigen läßt und die Demokratisierungsprozesse erfolgreich sein werden, bleibt die große Aufgabe einer Überwindung des ökonomischen West-Ost-Gefälles. Dazu bedarf es erheblicher Anstrengungen im östlichen Teil Europas: die Garantie von Rechtssicherheit, die für eine moderne Industriegesellschaft erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen, Anhebung der Produktivität in allen Sektoren sowie die allmähliche Herausbildung potenter Binnenmärkte.

Hinsichtlich des Übergangs von Kommandowirtschaften zu Marktwirtschaften gibt es keine historischen Vorläufer: Es handelt sich dabei um beispiellose soziale Großexperimente. Mißlingen sie, droht in Europa eine Zentrum-Peripherie-Struktur, wie sie aus den Nord-Süd-Beziehungen bekannt ist. Eine solche Entwicklung zu verhindern, gehört zu den weitsichtigen Aufgaben der hochindustrialisierten Gesellschaften Europas. Denn eine ökonomische Zerklüftung Europas bliebe nicht ohne politische und soziale Folgen, und sie wäre auch ökonomisch problematisch: Die Demokratisierungsprozesse würden belastet; den institutionellen Netzen der Kooperation würde der ökonomische Unterbau fehlen; ein anhaltendes dramatisches Wohlstandsgefälle würde erhebliche Wanderungsbewegungen von Ost nach West auslösen und möglicherweise zu Abschottungsmaßnahmen in Westeuropa führen und damit zu einer neuerlichen politischen Zerklüftung Europas. Und ökonomisch wird Osteuropa für das hochindustrialisierte Westeuropa erst dann interessant, wenn sich dort nicht ein armer Hinterhof, sondern politische Stabilität und eine kaufkräftige Nachfrage herausbilden: Wie alle Statistiken belegen, sind die wichtigen Geschäftspartner für die westlichen Industrieländer nicht die Niedriglohnländer in der Welt, sondern andere Hochlohnländer mit effizienten Ökonomien, denn nur unter solcher Bedingung kommt es zu einem intensiven Austausch im Rahmen substitutiver Arbeitsteilung.

In den hochindustrialisierten Ländern des Westens muß also erkannt werden, daß im wohlverstandenen Eigeninteresse massive öffentliche Sanierungshilfen und private Direktinvestitionen in Osteuropa wirkliche Zukunftsinvestitionen sind. Dabei wären im ökonomischen Umbau Osteuropas elementare entwicklungspolitische Lehren zu beachten: Kommt es zwischen einer weiter und einer minder vorgerückten Ökonomie zu regem Austausch, so besteht die Gefahr eines umfassenden und verheerenden Verdrängungswettbewerbs der überlegenen Ökonomie gegenüber der weniger entwickelten. Letztere muß sich also zumindest selektiv schützen, um als ökonomisches Gebilde überleben zu können. Ist der Schutz zu hoch, droht jedoch die Gefahr der Verkrustung alter und nicht überlebensfähiger Strukturen; ist der Schutz zu gering, wird die entsprechende unterlegene Ökonomie einfach überwältigt. Zu den großen wirtschafts- und entwicklungspolitischen Aufgaben im Osteuropa der neunziger Jahre gehört es, die richtige Mischung von Öffnung und selektivem Schutz zu finden. Da jede Mischung von Politik in den unterschiedlichen Hauptgruppen der Gesellschaft unterschiedliche positive oder negative Folgen zeigt, ist gerade die Frage von Öffnung und selektivem Schutz eine hochpolitische. Das industrialisierte Europa kann zur Entdramatisierung der damit zusammenhängenden potentiellen Konflikte beitragen, wenn es zu großzügigen Hilfen bereit ist. Sollen diese auf fruchtbaren Boden fallen, so sind allerdings an Ort und Stelle tiegreifende Reformmaßnahmen in Osteuropa unerläßlich.

4.Zivilisierung ethno-nationalistischer Konflikte

Im Europa der neunziger Jahre drohen nicht klassische militärische Auseinandersetzungen, sondern ethno-nationalistische Konflikte. Will man ihnen rechtzeitig begegnen, bedarf es gesamteuropäischer Institutionen derKonfliktschlichtung und friedlichen Streitbeilegung. Solche Konflikte drohen einer autistischen Konfliktdynamik zu folgen, wenn es nicht gelingt, sie auf einer höheren als der unmittelbar bilateralen Konfliktebene zu bearbeiten. Dann nämlich tritt frühzeitig Sprachlosigkeit und der Verlust an Kompromißfähigkeit ein: Die eskalatorische Konfliktdynamik droht unumkehrbar und zu einem Teufelskreis zu werden.

Ethno-nationalistische Konfliktbeziehungen zu zivilisieren, bedarf besonderer Anstrengungen, weil in solchen Konflikten nicht nur unterschiedliche Interessen zur Disposition stehen, sondern auch als unvereinbar wahrgenommene Identitäten. Anders als Interessenkonflikte lassen sich Identitätskonflikte jedoch kaum verrechnen. Deshalb sollte man Autonomiebestrebungen weitgehend entgegenkommen: Das Recht auf Selbstbestimmung sollte eine breite Anwendung finden, die konstitutionellen Vorkehrungen für den Minderheitenschutz sollten großzügig ausgelegt sein; selbst den Bestrebungen nach Sezession und Eigenstaatlichkeit sollte bereitwillig begegnet werden. Eine solche auf weitreichende Konzessionen ausgelegte Politik wird langfristig eine solidere Grundlage für Kooperation darstellen als eine Politik, der in harten politischen Auseinandersetzungen Schritt für Schritt begrenzte Zugeständnisse abgerungen werden müssen, zumal im letzteren Fall immer der Umschlag in gewalttätige Auseinandersetzungen droht.

5.Verständigung über Multikulturalität

Multikulturalität ist, abstrakt gesehen, ein unangreifbares Prinzip, beispielsweise nicht anders als Freihandel im ökonomischen Bereich. Aber so wie Freihandel nur unter spezifischen Bedingungen entwicklungsfördernd ist, so ist aller Erfahrung nach Multikulturalität nur in einem gewissen Ausmaße sozial verträglich. Es hat wenig Sinn, das Prinzip der Multikulturalität von Gesellschaften zu verfechten, wenn nicht gleichzeitig berücksichtigt wird, wie viel von ihr in einzelnen Gesellschaften problemlos verdaubar ist. Man schadet der guten Idee, wenn man sie nicht qualifiziert. Und zur Problemlösung wird im wesentlichen dadurch beigetragen, daß die Hilfsmaßnahmen zu den Menschen kommen, um die menschenverachtenden Verhältnisse vor Ort zu überwinden. Was größenmäßig weltweit eine aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lösbare Aufgabe ist – flankierende Hilfestellungen, durch die entsprechende Eigenanstrengungen leichter Erfolge haben könnten –, ist im europäischen Zusammenhang ohne weiteres zu bewerkstelligen: Es liegt im Eigeninteresse gerade der hochindustrialisierten Staaten Europas, ausreichende Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, um soziale Verwerfungen und in der Folge unkontrollierbar werdende Migrationsströme zu verhindern. Denn nur unter solcher Bedingung ist Multikulturalität in einer verarbeitbaren und fruchtbaren Größenordnung vorstellbar.

6.Zugang zu gemeinsamen Problemlösungen

Das Ende der Konfrontation in Europa macht den Weg für gemeinsame Lösungen in zentralen Problemfeldern frei: Niemand hatte sich in den vergangenen dreißig Jahren auf die Konversion der Rüstungswirtschaft und Militärapparate auf zivilwirtschaftliche und zivile Aktivitäten vorbereitet; die Ökologieproblematik war in den Staatshandelsländern ein tabuisiertes Thema, und sie erweist sich heute als besonders katastrophenträchtig. Einen gemeinsamen Diskurs über die Sozialverträglichkeit des weiteren technischen Fortschrittes hat es bisher nicht gegeben, auch nicht einen solchen über die Humanisierung des Arbeitslebens. Andere Problemfelder könnten angeführt werden. Wenn Europa politisch zu einem Rechts-, Wirtschafts- und Sozialraum zusammenwächst, ist es naheliegend, daß diese und andere Aufgabenstellungen der praktischen Politik gemeinsam aufgegriffen und einer Lösung zugeführt werden. Zumindest besteht die Chance, sich einer Problemdiskussion ohne falsche und unfruchtbare Frontstellungen zu nähern.

III.

Der militärische Faktor wird in Europa nicht von selbst zu einer residualen Größe; die Demokratisierungsprozesse stabilisieren sich nicht automatisch; den ökonomischen Zerklüftungsgefahren muß gezielt entgegengesteuert werden; die Brutalisierung und Primitivisierung ethno-nationalistischer Konflikte werden schneller tonangebend als die Bemühungen, solche Konflikte zu zivilisieren; Multikulturalität ist ein brüchiges Gebilde; gemeinsame Problemlösungen müssen gezielt angesteuert werden: Das Europa der neunziger Jahre bedarf also einer regulativen friedenspolitischen Leitperspektive, einer pragmatischen Vision: „Wir müssen so handeln“, schrieb Kant 1797 in seiner Rechtslehre, „daß das Ding sei, was vielleicht nicht ist.“ Das Ziel sollte ein Europa mit einer stabilen Friedensstruktur sein, aufbauend auf gesamteuropäischen Institutionen für die Koordination und Konzertierung der Politik der Einzelstaaten, getragen von einer breitgefächerten Kooperation auf gouvernementaler und nichtgouvernementalen Ebenen, untermauert durch verläßliche Institutionen der friedlichen Streitbeilegung und kooperativer/kollektiver Sicherheit, verwurzelt in Rechtstaatlichkeit und in inner- und zwischenstaatlichen Bemühungen um eine faire Verteilungsgerechtigkeit. Ein solches Europa könnte zu einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft zusammenwachsen: Es wäre föderalistisch strukturiert und würde dem Prinzip der Subsidiarität folgen; es würde über das heutige Europa institutionell hinauswachsen und dennoch erheblichen Wert auf die größtmögliche Autonomie seiner Regionen und Subregionen legen.

Dieses Europa würde durch vielfältige Verflechtungen (Interdependenzen) gekennzeichnet; es wäre ordnungspolitisch relativ vereinheitlicht (Homologie); das Wohlergehen in einem Teil würde vom Wohlergehen in anderen Teilen abhängig (Symbiose); die Austauschprozesse wären unüberschaubar und vielfältig (Entropie); gemeinsame Institutionen würden dem gesamten Gebilde ein belastbares Rückgrat verleihen. So könnte eine kooperative Struktur entstehen, in der die verschiedenen Dimensionen der Friedenspolitik positiv aufeinander zurückwirken. Deshalb sollten diese Dimensionen, wenn man sie einzeln diskutiert, immer im Kontext aller übrigen gesehen werden. Das gilt gerade auch für die Vorkehrungen im Rahmen eines Systems kooperativer/kollektiver Sicherheit, die weder mit entsprechenden Institutionen im Völkerbund noch mit solchen der Vereinten Nationen verglichen werden können, da sie in beiden genannten Fällen nicht in eine umfassendere Friedensstruktur eingebettet sind (und angesichts der politischen Heterogenität der Welt auch nicht in eine solche eingebettet werden können, da eine weitgehende politische Homogenität weltweit nicht erreichbar sein dürfte).

IV.

Die Herausbildung einer komplexen kooperativen Friedensstruktur in Europa macht also, wie die vorangegangenen Darlegungen nahelegen, einbreitgefächertes Friedenskonzept erforderlich. Dieses ist auf elementare Fragen einer Politik der Friedensgestaltung in Europa auszurichten: Wie soll diepolitische Ordnung des neuen Europa aussehen, also seine politische Figur? Wie soll in diesem Europa Sicherheit, d.h. gewaltloses Zusammenleben garantiert werden? Wie sollen, angesichts des deutlichen West-Ost-Gefälles, ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Wohlfahrt hergestellt und garantiert werden? Wie kann es in Europa zu einem sensiblen Einfühlungsvermögen (Empathie) und damit zu Solidarität zwischen den Völkern kommen? Diese Fragen deuten darauf hin, daß ein differenziertes Friedenskonzept erforderlich ist: In Europa geht es in den neunziger Jahren um die Verhinderung von Kriegen und von Gewalt, und weit davor schon um eine Konstellation, in der prinzipiell mit Gewalt nicht mehr gedroht wird. Positiv formuliert, geht es um Frieden im Sinne der Sicherung des Überlebens und gewaltloser Konfliktregelung. Zum zweiten geht es um die Abwehr und Abwesenheit politischer und andersartiger Unterdrückung, also um Frieden im Sinne des Schutzes von Grundfreiheiten und Menschenrechten. Drittens geht es um die Beseitigung von Elend, also um Frieden im Sinne der Förderung von Verteilungsgerechtigkeit, ohne die Menschenrechte nicht realisiert und Gewaltausbrüche nicht verhindert werden können. Schließlich geht es in Teilbereichen dieses neuen Europas insbesondere um die Abwesenheit politischer Entfremdung, also um Frieden im Sinne politischer und soziokultureller Identität, ohne deren Verwirklichungschance erhebliche potentiell und aktuell gewalttätige Konfliktlagen in Europa (Ethno-Nationalismus) bestehen blieben.

Welche Vorkehrungen müssen also getroffen werden, um die Androhung von Gewalt und insbesondere Gewaltanwendung prinzipiell zu verhindern? Wie läßt sich der Schutz von Grundfreiheiten und Menschenrechten sichern? Welche Politik ist erforderlich, damit das Gerechtigkeitsempfinden von Einzelnen und Kollektiven nicht verletzt wird? Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, damit die Lebensinteressen und die kulturelle Identität von Menschen nicht mißachtet werden? Das sind die Grundfragen künftiger Friedenspolitik in Europa.

In einem konstruktiven und breitgefächerten Friedenskonzept ist offenkundig, daß der Schutz des Überlebens und der Schutz der Menschenrechte sowie die Förderung von Verteilungsgerechtigkeit und die Berücksichtigung der Identitätsbedürfnisse von einzelnen und von Kollektiven eng miteinander verschränkte friedenspolitische Problematiken darstellen. Praktische Politik wird sich deshalb weit größeren Herausforderungen gegenübersehen als in der Vergangenheit, wo es unter konfrontativen Bedingungen im wesentlichen um das Management von militärischen „Gleichgewichtslagen“ und um Entspannung ging. Und daß auch die Wissenschaft, einschließlich der Friedensforschung, in dieser neuen Lage sich Neues einfallen lassen muß, ist ebenfalls offenkundig.

Dieter Senghaas ist Professor für Internationale Politik und Internationale Gesellschaft an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung.