DAS KÜNFTIGE EUROPA
: „Die EG ist ein erfolgreiches Laboratorium“

■ Interview mit dem Kabinettschef des EG-Präsidenten Jacques Delors, PASCAL LAMY

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Pascal Lamy: Ich stimme dieser These zu, wenn damit die „Exklusivität“ der Fähigkeit gemeint ist, die Weltpolitik zu beeinflussen. Anders gesagt, wenn die Frage lautet, ob die Vereinigten Staaten und die UdSSR nicht länger die beiden Supermächte sind, dann ist meine Antwort: Ja. Aber man muß hinzufügen, daß sie auch die letzten Supermächte der Art waren, wie wir sie seit 40 Jahren kennen. Ohne das „Super“ bleibt die Macht, das heißt die Fähigkeit, die Weltpolitik stark zu beeinflussen.

Dabei kann man die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten nicht auf eine Stufe stellen. Die Vereinigten Staaten haben interne Probleme, von denen bis jetzt nur die Anfänge sichtbar sind und die zweifelsohne die gegenwärtige Stärke ihres Modells unterminieren werden. Aber sie sind am heutigen Ausgangspunkt in einer Position der Stärke, während die Sowjetunion sich in einer Position der Schwäche befindet. Das derzeitige Problem der Sowjetunion besteht darin, wieder eine Gesellschaft, eine Nation und einen Staat aufzubauen, und die Sowjets sind den Herausforderungen von morgen sicher weniger gewachsen als denen von gestern.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Im großen und ganzen halte ich diese These für begründet. Denn die Integrationsbewegung Europas scheint mir, ganz gleich unter welchen Bedingungen, unwiderruflich und auch wünschenswert. Auch für Japan trifft sie zu, denn seine Machtbasis im klassischen Sinn des Wortes kann sich nur weiter verstärken. Die Japaner selbst müssen eine Antwort auf die Frage geben, ob es ihnen gefällt, daß ihre Macht die anderen beeinflußt. Für die Europäer gibt es in dieser Frage keinen Zweifel: historisch und durch ihre Zivilisation beantworten sie sie mit ja, denn was sie wollten, haben sie schon immer für die ganze Welt gewollt. Ich bezweifle, ob dies auch auf Japan zutrifft, aber wenn ich einen persönlichen Wunsch äußern sollte, dann fände ich es wünschenswert, daß Japan es tut.

Ich meine, daß wir alles in allem eine komplexere, freiere und vielfältigere Welt haben werden, die veränderlicher und daher instabiler sein wird. Vor allem zwei Herausforderungen müssen wir begegnen: Die erste betrifft unsere Fähigkeit, eine instabiler werdende Welt zu ordnen, also die Regulierung, das Management der immer wichtiger werdenden Interdependenzen. Die zweite große Herausforderung betrifft unsere Fähigkeit zu verteilen. Es geht darum, den Teufelskreis der Ungleichheiten aufzubrechen. Damit sind wir zwangsläufig eher im Bereich des Werts und des Sinns als im Bereich des Managements, der Verwaltung. Wir können diese Veränderungen nicht kalt und objektiv betrachten, wir brauchen ein Engagement für Werte, für einen Sinn. Daß beide Systeme Probleme haben oder bekommen werden und die Konfrontation abgebaut wird, heißt noch nicht, daß so etwas wie Sinn überflüssig wird.

Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?

Wir stehen vor einer Entkoppelung von Staat und Nation, und zwar im europäischen Sinn des Wortes, vielleicht aber auch in einem globalen Sinn des Wortes. Damit ist gemeint, daß man versuchen wird, einen Unterschied zwischen der Weltnation und dem Weltstaat zu machen, also zwischen einer nationalen Ebene, die als kulturelles Niveau, als Akkulturation weiterhin prägend, stark und unentbehrlich ist, und einer supra- oder paranationalen Ebene mit staatlichem Charakter, insoweit es eine Ordnung des Rechts, der verbindlichen Regeln und der Notwendigkeit kollektiven Verhaltens ist.

Die Nationen in Europa sind alt, stark und reich. Darauf muß man bauen. Niemandem fiele es ein, diese Nationen zu zerstören. Und wenn zum Beispiel nach dem Krieg die Föderalisten gegen die Nationen in den Kampf gezogen sind, denen sie die Schuld an brudermörderischen Kämpfen, an Kriegen und an Völkermorden gaben, dann haben sie sich im Gegner geirrt. Bis zu einem gewissen Grad hatten die Staaten schuld und nicht die Nationen.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?

Die Antwort lautet Nord-Süd und Nord-Nord – das erstere wegen externer Konflikte und das letztere wegen interner Probleme. Ich unterscheide vier Hauptkategorien von Spannungen, die zu Ausgangspunkten von Konflikten werden können.

1.Die Spannung Bevölkerung-Wachstum, die offensichtlich ist und von den Karten abgelesen werden kann.

2.Die Spannung Konkurrenz-Regulierung, die unmittelbar verbunden ist mit einer Welt, die komplexer, freier, vielfältiger, veränderlicher und damit konkurrenzhafter ist. Konkurrenz steht höher im Kurs, und sie ist auch wirkungsvoller; aber ohne Regulierung führt sie zu Konflikten.

3.Die Spannung Umwelt-Entwicklung, die sich nicht auf das Differential der Evolution richtet, sondern direkt auf die Massen. Welches Modell der Energieerzeugung werden China, Indien oder Brasilien verfolgen?

4.Die Spannung individuelle Priorität-kollektive Priorität schließlich, die in den 90er Jahren eine Herausforderung für das demokratische Modell sein wird. Dieses Modell ist und bleibt das einzige, das die Gültigkeit seiner Werte und seine Leistungsfähigkeit für den Fortschritt bewiesen hat. Das Entscheidungsproblem zwischen Individuellem und Kollektivem tritt mehr und mehr auch auf globaler Ebene in Erscheinung, mit denselben institutionellen Komponenten wie innerhalb unserer Demokratien.

Welche Institutionen werden es möglich machen, diese individuellen und kollektiven Prioritäten zu artikulieren? Haben wir funktionierende globale Institutionen, etwa für dem Umweltschutz? Nein. Haben wir funktionierende Institutionen für die Finanzen? Halbwegs. Haben wir funktionierende Organisationen für den Handel? Nein. Haben wir funktionierende Institutionen für Technologie und Technologiekontrolle? Nein.

Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?

Bei einem einfachen Frage-und-Antwort-Spiel fällt mir immer ein, daß man die Frage, woher die Macht kommt, unmittelbar mit der Frage verbinden muß, wohin die Macht geht. Dann läßt sich unsere Sichtweise nicht mehr von einem Wertesystem trennen.

Ich meine, daß die Kultur im sozietären, im deutschen Sinn des Wortes der beherrschende Faktor sein wird. Kultur bedeutet die Fähigkeit, ein Gesellschaftssystem zu strukturieren und für seine Verbreitung zu sorgen. Die Macht und Kraft von Gesellschaften beruht wesentlich auf ihrem Zusammenhalt, ihrer Fähigkeit, für sich selbst stark zu sein; eine starke Kultur ist das Selbstbild einer starken Gesellschaft.

Deshalb sind die gesellschaftlichen Fragen, die innerhalb eines ideologischen Parameters bestanden haben, nicht verschwunden, nur weil die Ideologien schwächer geworden sind. Sie bilden immer noch die Grundlage der Macht, und an der Art und Weise, in der gesellschaftliche Fragen gelöst werden, erkennt man diejenigen, die morgen mächtiger als heute und übermorgen mächtiger als morgen sein werden.

Wird sich das System der Weltpolitik im Jahr 2000 von dem in der Nachkriegszeit etablierten unterscheiden? In seinen Intentionen und Prinzipien nicht unbedingt – die Welt muß über Gesetze und entsprechende Regulationsmechanismen verfügen, die es ermöglichen, den Frieden zu erhalten. Die Regulationsmechanismen müßten sich bis dahin allerdings geändert haben, denn die Nachkriegsgeschichte hat gezeigt, daß zwischen den Intentionen und der Technologie, mit der sie umgesetzt werden sollten, eine beträchtliche Lücke, ein „gap“, bestand. Dieses „gap“ muß bis zum Jahr 2000 verschwunden sein, sonst werden einige der gefährlichsten Unruheherde bis dahin explodiert sein.

Anders gesagt: Zwischen uns und dem Völkerbund besteht eine offensichtliche ideologische Verwandtschaft, die in der Suche nach Frieden und dem Bestreben nach Transparenz der globalen Organisationen liegt. Diese Zielsetzung muß den Realitäten angepaßt werden. Der Umweltschutz zum Beispiel stand nach dem Ersten Weltkrieg nicht im Vordergrund der Überlegungen. In der Anpassung dieses Modells müssen Fortschritte gemacht werden, und zweifellos wird das auch gelingen.

Der polnische Schriftsteller Krzysztof Pomain faßt mehrere Jahrhunderte europäischer Geschichte in der Feststellung zusammen, daß die Nationen schließlich immer über Europa gesiegt haben. Gilt dies auch für das kommende Jahrzehnt?

Wenn man Nationen ganz allgemein durch die Kultur und die Staaten durch das Recht definiert, dann stehen wir vor einer Abkoppelung der Nation vom Staat, und die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der Frage, ob einer stärker ist als der andere, sondern vielmehr in der Verbindung des einen und des anderen; und auf diesem Gebiet hat die Europäische Gemeinschaft zweifellos einen „technologischen Vorsprung“. Die EG hat diese Herausforderung eher angenommen als andere. Sie ist so etwas wie ein erfolgreiches Laboratorium für Interdependenzen. Damit bewahrt sie eine „universalistische“ europäische Tradition, eine Fähigkeit, den anderen auf diese Art von Fragen Antworten zu geben.