DAS KÜNFTIGE EUROPA
: „Eine Gemeinschaft vom Atlantik bis zum Bug“

■ Interview mit dem langjährigen außenpolitischen Berater des Bundeskanzlers, HORST TELTSCHIK

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Horst Teltschik: Diese These halte ich nicht für richtig. Betrachten wir doch nur das sehr entscheidende Problem des Golfkonflikts. Wiederum sind es die USA, die die Reaktion der internationalen Welt bestimmen – und die wichtigste Unterstützung der amerikanischen Bemühungen kommt aus der Sowjetunion. Ohne die Zusammenarbeit beider Weltmächte in dieser Region hätte Saddam Hussein sofort versucht, beide Weltmächte gegeneinander auszuspielen, um eine von ihnen auf seine Seite zu ziehen.

Allerdings glaube ich tatsächlich, daß wir den Niedergang einer Weltmacht miterleben, nämlich der Sowjetunion. Wir stehen vor einer zunehmenden Instabilität, vor ökonomischer Schwäche und sozialer Unruhe in der Sowjetunion.

Daher würde ich sagen, daß wir es in den kommenden Jahren nur mit einer Weltmacht zu tun haben: den USA. Auch diese Aussicht – nur eine Weltmacht zu haben – ist nicht unproblematisch, weil wir es in der Zukunft in erster Linie mit regionalen Konflikten zu tun haben werden wie dem Nahen Osten, der Region Pakistan, Kambodscha, Südafrika und so weiter. Und ich halte es für gut, wenn jede Weltmacht so etwas wie ein Gegengewicht hat, um ihren internationalen Einfluß auszugleichen. Daher fordert der Niedergang der Sowjetunion vor allem eine Antwort der Europäer heraus: Ob es ihnen gelingt, in der Außenpolitik zu einer engeren Kooperation zu kommen, ob ihre Sicherheitspolitik bei der Behandlung zukünftiger regionaler Konflikte zu einer Alternative für andere Länder wird – sie müssen der US-Politik nicht nur folgen.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Dies halte ich für die richtige Perspektive; ich betrachte es als absolut wünschenswert, daß die Europäer weltweit Verantwortung übernehmen. Die Europäische Gemeinschaft als solche ist mit ihren zwölf Mitgliedsländern bereits mehr oder weniger eine wirtschaftliche Weltmacht. Mit der Einführung des inneren Marktes wird das noch zunehmen; es wird grundsätzliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben, auf die Finanzmärkte der Welt. Betrachten wir, was abläuft: Dieses Europa der Zwölf zieht schon jetzt die EFTA-Länder und die meisten osteuropäischen Länder wie Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn an – sie denken bereits darüber nach, sich einer Gemeinschaft der Länder vom Atlantik bis zum Bug anzuschließen. Wirtschaftlich und politisch wäre dies von ungeheurer Bedeutung. Jeder wird fragen: „Was tun diese Europäer, um ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden?“ Deshalb würde ich sagen, Europa ist bereits dabei, so etwas wie eine Weltmacht zu werden. Und die deutsch-französische Initiative vom letzten Frühjahr, die europäische Integration in Richtung einer politischen Union und der monetären und wirtschaftlichen Union voranzutreiben, ist der Anfang und der Kern einer integrierten Gemeinschaft, die dann schließlich auch eine gemeinsame Politik formulieren und durchführen kann. Das ist absolut notwendig.

Was Japan angeht, sieht die Lage etwas anders aus. Es hat bereits einen starken Einfluß auf die Weltwirtschaft und ist ein Mitglied der G7. Ich bin mir jedoch noch nicht sicher, ob es weltweit eine politische Rolle spielen kann. Die Hauptrolle Japans sollte sich auf den südostasiatischen Pazifikraum konzentrieren, wo es eine Reihe politisch und wirtschaftlich unstabiler Länder gibt. Und wir dürfen nicht vergessen, daß es in der gleichen Region zwei weitere potentielle Weltmächte gibt, nämlich China und Indien. Daher sollte Japan sich hauptsächlich zur Aufgabe machen, in seiner eigenen Region eine stabile regionale Kooperation herbeizuführen.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen?

Ich bin überzeugt, daß wir in den neunziger Jahren beides haben werden: Nord-Süd-Spannungen ebenso wie Süd-Süd- Spannungen. Wir könnten sogar Nord-Nord-Spannungen erleben, aber sie sind weniger wahrscheinlich. Tatsächlich haben wir heute die Chance, den Ost-West-Konflikt zu überwinden, alle Schwierigkeiten und Probleme in Europa beizulegen, zwischen beiden Weltmächten und zwischen den drei: USA, Europa, Sowjetunion.

Aber wenn wir den Süden betrachten, müssen wir uns nicht nur über die Golf-Region Sorgen machen, sondern über den gesamten Mittelmeerraum. Der Maghreb ist ein potentielles Krisengebiet. Dann gibt es Libyen, und auch Ägypten und den Sudan. Und selbst die Probleme zwischen Griechenland und der Türkei sind noch nicht beigelegt.

Und dann werden wir – und das beginnt ja bereits – einen unglaublichen Einwanderungsdruck aus dieser Region in die reichen Länder Europas erleben. Mit der Einführung des inneren Marktes wird sich die Einwanderung aus dem Maghreb nach Südfrankreich auf den Rest Europas ausweiten. Daraus können sehr schwere Spannungen entstehen.

Die andere mögliche Konfliktquelle ist der islamische Fundamentalismus. Für die Sowjetunion ist er bereits zu einer großen Herausforderung geworden, und er ist auch eine Herausforderung für die westliche Welt. Zudem mache ich mir auch sehr viele Sorgen über die Vorgänge in der Region Pakistan und Indien.

Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?

Wir sind nicht sicher, ob wir in den nächsten Jahren wieder dramatische Spannungen in Europa erleben werden. Aus zwei Gründen ist der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion beunruhigend: Es droht politische Anarchie (die Russen haben eine Tradition des Anarchismus), und wegen des Auseinanderfallens der Union und den Spannungen zwischen den Nationalitäten.

Diese Entwicklungen könnten unfriedlich ablaufen. Sie könnten sehr gefährlich werden, weil eine schwache Weltmacht und anarchistische Weltmacht in die Versuchung geraten könnte, ihre Schwierigkeiten aggressiv zu lösen, durch aggressives Vorgehen, intern und im Ausland.

Der andere Problembereich sind Länder wie Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, die wirtschaftlich überaus schwach sind. Die neueren demokratischen Entwicklungen haben sich noch nicht konsolidiert. Gleichzeitig erleben wir eine Wiederbelebung ethnischer Probleme, Konflikte der Nationalitäten. In einigen dieser Länder besteht sogar die Gefahr eines Bürgerkriegs, zum Beispiel zwischen Kroatien und Serbien. Kroatien und Slowenien haben bereits ihre Souveränität erklärt. Es gibt einige Hinweise, daß auch die Slowakei Interesse zeigt, ein souveräner Staat zu werden.

Außerdem werden Länder wie Ungarn und Polen im nächsten Jahr nicht mehr dem Warschauer Pakt angehören. Stattdessen könnte dort eine unklare Sicherheitssituation entstehen. Neue Spannungen wären möglich. Hinsichtlich der Sicherheit müssen wir politische Gesamtstrategien entwickeln, um neue Unruhe, neue Unsicherheiten und neue Instabilität in Europa zu verhindern. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.

Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?

Alle sind sich einig, daß die internationale Politik nicht länger vom Ost-West-Konflikt beherrscht werden wird, was eine grundsätzlich neue Situation darstellt. Eine Menge regionaler Konflikte werden leichter als in der Vergangenheit beizulegen sein.

Daneben wird sich die Katastrophe der kommunistischen Ideologie in Fragen der Außenpolitik auch als Erleichterung auswirken, weil eine Außenpolitik, die sich nicht an ideologischen Dogmen ausrichtet, größere Flexibilität erlaubt.

Eines der wichtigsten Themen ist weiterhin die Frage der Wirtschaft, wegen des dramatischen ökonomischen Niedergangs in Mittel- und Osteuropa einschließlich der Sowjetunion, was zur Destabilisierung der gesamten Region beiträgt. Wenn man die Nationalitätenprobleme betrachtet, so hat ihr Ausbruch sehr häufig soziale und ökonomische Ursachen. Wir werden eine Antwort finden müssen, um diesen Ländern ökonomisch und finanziell zu helfen.

Aber ich glaube, wenn Sie sagen würden: „Das ist alles“, so wäre das sehr kurzsichtig gedacht. Denn das wichtigste Problem, dem sich heute die Sowjetunion und die ehemaligen kommunistischen Länder gegenüber sehen, ist ihr technologischer und intellektueller Rückstand. Sie haben noch keine Alternative zur früheren kommunistischen Ideologie entwickelt – das zeigt sich am schärfsten in der Sowjetunion. Die wichtigste Aufgabe in diesen Ländern – und das gilt auch für viele Länder der Dritten Welt, die früher dem sowjetischen Modell folgten – lautet, neue Werte für ihre Gesellschaft zu erkennen und zu artikulieren. Dies setzt in Grundfragen einen Konsensus voraus. Das größte Defizit dieser Länder besteht jedoch darin, daß ihnen zur Zeit die Institutionen fehlen, die dazu in der Lage wären. Wer kann solche Werte erkennen und artikulieren, die für die intellektuelle, politische und ökonomische Erholung so wichtig sind? Man kann keine Marktwirtschaft aufbauen, wenn hinsichtlich der Grundprinzipien und gemeinsamen Werte wie zum Beispiel Privateigentum und Menschenrechte keine Übereinstimmung herrscht. Die Weiterentwicklung der Menschenrechte und der Demokratie wird weltweit eine der wichtigsten Aufgaben, wegen der verschiedenen Kulturen und verschiedenen Verhaltensmuster. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen: „Schön, sie werden mehr oder weniger das gleiche tun wie wir.“ Stattdessen müssen wir ihnen helfen, Antworten in ihren eigenen kulturellen Traditionen und Wertsystemen zu finden. Und vergessen Sie nicht: Wir alle stehen vor gewaltigen Aufgaben wie Umweltprobleme, Schlüsseltechnologien, Biotechnologie und Telekommunikation, die unsere Gesellschaften gemeinsam bewältigen müssen.

Der polnische Schriftsteller Krzysztof Pomian faßt mehrere Jahrhunderte europäischer Geschichte in der Feststellung zusammen, daß die Nationen schließlich immer über Europa gesiegt haben. Gilt dies auch für das kommende Jahrzehnt?

Wenn man Westeuropa betrachtet, ist die Integration im Gang. In Bezug auf Ost- oder Mitteleuropa könnte er recht haben, weil die Idee des Nationalismus eine Triebkraft der Emanzipation von der Sowjet-Hegemonie war. Aber dies ist sehr kurzsichtig; denn nachdem sie diese Emanzipation, ihre Freiheit von der Sowjetunion erreicht haben, liegt ihr wichtigstes Ziel darin, sich in den Rest Europas zu integrieren. Daher haben wir in Ost und West das klare gemeinsame Interesse, unsere Länder so weit als möglich zu integrieren.

Andererseits wird diese Entwicklung zur Integration nur funktionieren, wenn wir bereit sind, Macht innerhalb dieser integrierten Gemeinschaft zu dezentralisieren. Politisch – und mehr oder weniger auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft – glaube ich, daß hochindustrialisierte Länder wie die europäischen nicht mehr von zentralisierten Regierungen regiert werden können.

Welche besondere Rolle sehen Sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?

Was Deutschland angeht, ist die Antwort recht klar. Geopolitisch liegen wir im Zentrum Europas. Daher wird alles, was Deutschland tut, sich auf alle unsere Nachbarn auswirken, im Westen und im Osten. Ich glaube, die Stabilität Europas hängt hauptsächlich von der Frage ab: „Was wird Deutschland tun?“

Ein neutrales Deutschland würde Europa destabilisieren. Deshalb glauben wir, daß es nur einen Kurs gibt: den der vollen Integration in den Westen, in die Europäische Gemeinschaft.

Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft muß die Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland Motor der Integration bleiben. Nichts ist möglich ohne Deutschland und Frankreich; viel kann erreicht werden, wenn Deutschland und Frankreich zusammengehen. Daneben sehe ich unsere Rolle darin, so eng als möglich mit dem Rest Europas einschließlich der Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Wir müssen in gewisser Hinsicht der Anwalt unserer östlichen Nachbarn sein. Wir spielen diese Rolle schon, aber es wäre besser – und das haben wir Frankreich auch vorgeschlagen – wenn wir zu einer gemeinsamen „Ostpolitik“ kämen, einer gemeinsamen Politik hinsichtlich der Kooperation mit Mitteleuropa und der Sowjetunion.