MULTIPOLARE WELT
: Was wird aus China?

Welchen Weg das Reich der Mitte einschlägt, wird sich erst nach dem Tod Deng Xiaopings entscheiden. Noch hält der „kleine Steuermann“ die divergierenden Kräfte der allmächtigen Partei zusammen. Das eigentliche Problem wird darin bestehen, wie die zentrifugalen Kräfte gebändigt werden können. In dem riesigen Land, dessen Bewohner längst alle kommunistischen Utopien verloren haben, tun sich besorgniserregende Perspektiven auf.  ■ VON JEAN-LUC DOMENACH

Seit China überstürzt zu einer Modernität gezwungen wurde, die vom Westen beherrscht wird, war es immer unfähig, sich einen ihm entsprechenden Platz zu verschaffen. Obwohl ehrgeiziger als sein nationalistischer Vorgänger, ist dem kommunistischen Regime weder der Übergang zum Kommunismus noch der Zugang zum Rang einer Großmacht gelungen. Seit dem Frühjahr 1989 schwankt China zwischen Fortschritt und Obskurantismus, und der Schlüssel zur Zukunft liegt weiterhin in der Nachfolge von Deng Xiaoping: Solange er lebt, kann keine klare Entscheidung getroffen werden, und die chinesische Krise spitzt sich allmählich zu. Nur durch seinen Tod werden Möglichkeiten eröffnet.

Aber was für Möglichkeiten bleiben diesem Land? Durch ewiges Zögern und aufgrund vieler Irrtümer darf es schon jetzt nicht mehr auf brillante Erfolge hoffen. China hat keine der großen technologischen und industriellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts ganz abgeschlossen, und der Kommunismus hinterläßt nur – und das ist mehr als nichts – eine Art von lebensnotwendigem industriellem Minimum sowie Kontaktpunkte zur entwickelten Welt. Dazu kommt, daß die Zukunft vom Gewicht der Demographie belastet ist; wenn die chinesische Bevölkerung auf 800 Millionen beschränkt wäre, könnte die Prognose optimistisch sein, aber sie überschreitet 1,1 Milliarden und wird am Ende des Jahrhunderts 1,25 Milliarden erreichen. Die demographische Masse ist die schwerwiegendste und dauerhafteste Behinderung der wirtschaftlichen Entwicklung: Was einmal eine große Hoffnung war, ist heute ein ungeheurer Mißerfolg. Es ist ein politischer Mißerfolg – die Machterhaltung eines korrupten und inkompetenten Apparates –, aber auch ein kultureller und gesellschaftlicher: Der Kommunismus hat nicht nur die Opposition getötet und die Eliten unterworfen, er hat auch den Sinn für das Allgemeinwohl und die moralischen Grundlagen des Staates zerstört. Der vierte Hemmschuh – und zugleich der jüngste – ist die internationale Lage. Denn die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Welt begünstigte die großen Länder wie die UdSSR und China, die einer soliden Kontrolle unterstanden und militarisiert waren; doch durch das Verschwinden der bipolaren Konfrontation wurde die Bedeutung politisch-militärischer Machtkriterien reduziert. China ist von Japan überholt worden, seine Rolle in Asien verfällt, und zahlreiche Entwicklungländer treten in eine ernstzunehmende wirtschaftliche Konkurrenz zu China.

Aus all diesen Gründen scheint China nicht in der Lage zu sein, sehr bald den Rückstand aufzuholen, durch den es von den stärksten Mächten getrennt ist. In der nahen Zukunft bleibt dem Land nur die Wahl zwischen Mittelmaß und Verschlechterung, zwischen einer mühsamen, aber vielversprechenden Progression, vergleichbar mit der zwischen 1978 und 1989, und einem weitergehenden Verfall. Es ist die entscheidende Alternative, denn im ersten Fall bliebe China ein wichtiger Partner, im zweiten würde es eine Gefahr für den Rest der Welt.

Die Wahl zwischen diesen beiden Optionen wird mit der Nachfolge von Deng getroffen. Es wird nicht nur eine Wahl zwischen Personen und Ideen sein, sondern zwischen Interessen, politischen Prozessen und – noch weitergehend – zwischen politischen Konzepten. Die Personalfrage ist leicht zu klären: Deng ist der letzte „Große“ des chinesischen Kommunismus, und Peking hat keinen anderen politischen Führer seiner Bedeutung. Die Anführer der wichtigsten Gruppen sind entweder zu alt (die achtzigjährigen Yang Shangkung, Chen Yun und Peng Zhen), zu mittelmäßig (der Generalsekretär der KPCh, Jiang Zemin), durch die jüngsten repressiven oder reformistischen Episoden allzu sehr kompromittiert (Zhao Ziyang, Li Peng) oder noch nicht lange genug im Apparat (Qiao Shi, Li Peng). Unter den Kräften, von denen sie unterstützt werden, ist keine stark und einig genug, um ihren Anfüher an die Macht zu bringen, da die wichtigsten Kräfte, die Armee, die Verwaltung der Provinzen und der Sicherheitsapparat, in verschiedene Gefolgschaften zersplittert sind. Es ist also schlecht vorstellbar, daß die Nachfolge von Deng Xiaoping nicht zumindest am Anfang zwischen verschiedenen Gruppierungen aufgeteilt wird.

Die ideologischen Standpunkte spielen bei ihrer Rivalität keine wesentliche Rolle. Vor allem, weil diese Parteiungen in erster Linie Interessengruppen sind, die auf personeller Zugehörigkeit basieren, aber auch, weil die wirklichen Divergenzen minimal sind und nur kleine Minderheiten zu extremen Optionen tendieren. Der Maoismus als Idee ist tot, eine Nostalgie der alten Kämpfer; die kommunistische Utopie ist zusammengebrochen, in China wie anderswo. Die demokratische Option dagegen wird nur von Gruppen dissidenter Intellektueller unterstützt, die ihre Popularität dem repressiven Starrsinn der Macht verdanken. Denn die von der Propaganda in Peking künstlich aufrecht erhaltenen scholastischen Querelen können nicht verdecken, daß die meisten chinesischen Führer sich über drei Ziele einig sind: die wirtschaftliche Modernisierung, die gesellschaftliche Ordnung und die Demokratisierung. Die Divergenzen betreffen die Rangfolge dieser Essentials und lassen sich im Grunde auf eine einzige Frage reduzieren: Wie kann man vom Sozialismus wenigstens das retten, was ihre Hüter an Positivem erreicht haben? Obwohl sie die Notwendigkeit einer Modernisierung akzeptieren, wollen die „Konservativen“ das Monopol der Partei bewahren, während die „Reformer“ bereit sind, es mit der Verwaltung, den Intellektuellen und im weiteren Sinne mit den städtischen Eliten zu teilen. Vor dem Frühjahr 1989 war das Kräfteverhältnis eher günstig für die „Reformer“, danach veränderte es sich zugunsten der „Konservativen“; doch durch die Präsenz von Deng Xiaoping wurde die Bandbreite der Schwankungen begrenzt: Der „kleine Steuermann“ wollte die Synthese absichern und bewahrte sich in beiden Lagern seine Getreuen. Nach seinem Tod wird es potentiell mehr Konflikte geben, aber gleichzeitig wächst die Notwendigkeit, sie zu schlichten. Von der Überwachung durch ihren Meister befreit, werden die Gruppierungen versucht sein, ihrem Ehrgeiz freien Lauf zu lassen, und ihre Auseinandersetzungen werden zwangsläufig ein größeres Echo in einer Bevölkerung finden, die von dem Gefühl befreit ist, daß sowieso schon alles vorher feststeht. Die sozialen Unruhen werden zwar häufiger und massiver sein, doch andererseits wird das Wiederaufleben von Gruppenkonflikten Kompromisse noch notwendiger machen. Ohne ihren änigmatischen Meister wird die herrschende Schicht Chinas, will sie überleben, gezwungen sein, Regeln zu erfinden und vermutlich auch die Opfer der Repression von 1989 zu reintegrieren, allen voran den abgesetzten Generalsekretär Zhao Ziyang. Die Nachfolge von Deng Xiaoping könnte also in diesem Sinn mutatis mutandis der von Stalin ähneln.

Aber das ist nicht das eigentliche Problem, denn man kann sich zwar ohne weiteres vorstellen, daß sich die Nachfolger von Deng Xiaoping um einen Kompromißkandidaten mit unbestimmten Modernisierungsabsichten sammeln, jedoch kaum, daß sie in der Lage sind, die Verbindung zur Gesellschaft wiederherzustellen. Die Beziehungen zwischen Macht und Bevölkerung sind durch vierzig Jahre Kommunismus doppelt geschädigt: Die Bevölkerung hat die Macht entweder gefürchtet oder falsch eingeschätzt und sich, wie im Frühjahr 1989, Illusionen gemacht, um dann wieder in Hoffnungslosigkeit zu versinken. Mit dem Kommunismus ist die Politik abgestorben. Es gibt nur wenige Länder der Erde, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt so schwach ist wie in China, wo die Einzelegoismen derart entfesselt sind und wirtschaftliche und soziale – manchmal regional auch sehr starke – Interessen zäh verteidigt werden. Jedes Dorf, jede Fabrik, jeder Distrikt und jede Provinz kämpft um ihren Vorteil, ohne sich um die Nachbarn oder die nationalen Interessen zu kümmern. Das eigentliche Problem im China des 21. Jahrhunderts liegt möglicherweise nicht in der politischen Orientierung, sondern in seiner Fähigkeit, den zentrifugalen Tendenzen in einem internationalen Umfeld zu widerstehen, das die besten Ressourcen des Landes nach außen zieht.

Ein China, das durch seine anfänglichen Rückstände gehemmt, durch seine demographische Masse belastet und von internationaler Deklassierung bedroht ist, wird vor schweren Entscheidungen stehen.

Diese Perspektive ist besorgniserregend, denn bei ihrem Einsturz haben die kommunistischen Ideale nicht nur mörderische Ambitonen mitgerissen, sondern auch die Kräfte des Zusammenhalts. Das China der nächsten Jahrzehnte wird politisch zwar zweifellos besonnener sein als das von Mao Tse-tung, aber gesellschaftlich auch weniger geeint. Es geht im wesentlichen darum, ob es durch Kompromisse zwischen den verschiedenen Gruppierungen gelingt, die gesellschaftlichen Mißverhältnisse auszugleichen, Sinn und Nutzen hineinzubringen. Falls das gelingt, könnte China – in aller Nüchternheit und ohne Illusionen – einen eigenen Weg aus dem Kommunismus finden: eine Mischung aus politischem Autoritarismus, Kompromissen zwischen Gruppen und der Vertretung von Einzelinteressen. Wenn nicht, würden die Grundlagen des einheitlichen chinesischen Staates erschüttert und die zentrifugalen Kräfte schnell Oberhand gewinnen: China würde eine Ohn-Macht und eine Gefahr für seine Nachbarn. Die Entscheidung ist schwer, aber diesmal nicht mehr zu umgehen.

Jean-Luc Domenach ist Leiter des Centre dEtudes et de Recherches Internationales in Paris.