MULTIPOLARE WELT
: Die Hoffnung auf das minimale Risiko

Japan weigert sich standhaft, militärstrategische Visionen zu entwickeln  ■ VON GEORG BLUME

„Wie mächtig nur wird Japan zum Beginn des 21. Jahrhunderts sein?“ fragt sich Paul Kennedy in dem Standardwerk der achziger Jahre über den „Aufstieg und Fall der großen Mächte“. Seine Antwort lautet vorläufig: „Viel mächtiger als heute.“ Dann muß auch Kennedy ins Unreine denken: „Die tiefsten Sorgen der Japaner werden vermutlich öffentlich nie angesprochen – zum einen, weil es zur diplomatischen Diskretion gehört, zum anderen, weil man die Themen nicht unnötig vorbelasten will. Diese Sorgen betreffen das zukünftige Machtgleichgewicht in Ostasien selbst. Denn was wäre, wenn sich die USA aus Asien zurückziehen, (...) wenn es einen neuen Koreakrieg gäbe, wenn China die Region dominieren würde?“

Kennedys treffende Fragen werden auch zum Beginn der neunziger Jahre in Japan kaum ernsthaft erörtert. Zwar hat die Supermacht in Fernost eine sogenannte „Selbstverteidigungsarmee“ auf dem nunmehr brüchigen Fundament des kalten Krieges aufgebaut, dabei stets nur die Sowjetunion und Nordkorea als militärisch bedrohlich erwähnt und alle eigenen militärischen Überlegungen unter den Schutzmantel der USA gestellt. Doch scheint die einseitige Ausrichtung der Vergangenheit noch immer nicht Grund genug, um Verteidigungspolitiker und Militärexperten zu neuen Visionen zu bewegen. Europa sei nicht Asien, und Japan verfüge sowieso nur über ein Minimum militärischer Abschreckung, argumentiert die Tokioter Verteidigungsbehörde. So will sie den Status quo erhalten. Der Militärexperte Hisao Meida, ein vormals hochrangiger Beamter der Verteidigungsbehörde, konstatiert den Erklärungsnotstand: „Unserem Land fehlt heute jegliche militärstrategische Argumentation. Die Regierung hat gegenüber den USA nie eine eigenständige Politik verfolgt. Jetzt handelt sie immer noch nach dem diplomatischen Muster des kalten Krieges.“

Maximale Gewinne – minimales Risiko

Tokio weint einer Zeit nach, in der man die Außenpolitik des Landes mit den Worten „maximaler Gewinn – minimales Risiko“ für alle Welt glaubhaft umschreiben konnte. „Die verbesserten Beziehungen zwischen Moskau und Washington bringen uns keine Vorteile“, stellt Haruo Fujii fest, ein ebenfalls renommierter verteidigungspolitischer Beobachter. Er verweist auf die neue Angst vor der japanischen Militärmacht in den asiatischen Nachbarländern, die bereits heute entstehe, da sich der Klammergriff der Supermächte gelockert habe. Zwar gäbe es einen Expertenstreit, ob Japan weltweit über den dritt- oder nur sechstgrößten Militärhaushalt verfüge, doch liege das Land in Asien unbestritten an erster Stelle. Japans Verteidigungsbudget übertrifft den indischen und südkoreanischen um das Drei-, den chinesischen nahezu um das Fünffache. Fujii empfiehlt seinem Land, an den Anstrengungen zur Aufrüstung teilzunehmen, um das internationale Vertrauen in Japan zu stärken.

Solche Stimmen kommen in Japan vor allem dem Finanzministerium entgegen, das ständig um Sparmaßnahmen bemüht ist und dabei jede sich bietende Möglichkeit ergreift. Im Haushaltsjahr 1991 soll deshalb das japanische Militärbudget nicht mehr wie in den vergangenen Jahren erhöht, sondern auf seinem bisherigen Stand eingefroren werden. Der Exgeneral der Selbstverteidigungsarmee, Kanae Masuoka, findet darin Grund genug zur Klage: „Die Abrüstungskampagne von Kommunisten und Sozialisten hat Feuer gefangen“, schreibt Masuoka, der unter seinesgleichen schon damit eine Ausnahme macht, daß er sich überhaupt an der öffentlichen Diskussion beteiligt. „Die Führer dieses Landes sind ignorant und unerfahren im Umgang mit militärischen Angelegenheiten. Viele, die zur Armee kamen, weil sie hofften, sie könnten erneut eine neue, richtige nationale Streitkraft aufbauen, sind enttäuscht wieder weggegangen.“

Masuoka, Fujii und Meida sind sich mit vielen Beobachtern einig, daß die Kuwaitkrise und der japanische Streit um die Truppenentsendung in den Golf das Fehlen einer eigenen japanischen Sicherheitsstrategie erneut unter Beweis gestellt habe. Doch alternative Konzepte können auch sie nicht vorschlagen. Der politische Kommentator Masahiko Ishizuka macht dafür die „sogenannte Friedensverfassung“ verantwortlich, die dadurch charakterisiert sei, daß sie den Krieg und den Gebrauch von Waffen zur Lösung internationaler Konflikte verbiete. Ishizuka: „Kritik an der Verfassung bleibt genauso tabu wie Kritik am Kaiser.“ Auch Paul Kennedy mußte feststellen, daß die Skepsis der Japaner gegenüber allen Instrumenten des Krieges „zumindest ebenso groß ist wie der westliche Pazifismus nach dem ersten Weltkrieg“.

Georg Blume ist Japan-Korrespondent der taz