MULTIPOLARE WELT
: Minderheiten als politische Waffe

■ Der Zerfall der kommunistischen Staaten zeitigt ähnliche Folgen wie einst der Zerfall der Kolonialreiche, es häufen sich ethnische und regionale Konflikt. Mit der Entideologisierung der Beziehungen...

Der Zerfall der kommunistischen Staaten zeitigt ähnliche Folgen wie einst der Zerfall der Kolonialreiche, es häufen sich ethnische und regionale Konflikte. Mit der Entideologisierung der Beziehungen zwischen den Großmächten formieren sich neue hegemoniale Blöcke. Die Minderheiten werden immer häufiger zum Spielball fremder Interessen. VON RENÉ LEMARCHAND

Während das Verschwinden des Eisernen Vorhangs eine beispiellose Veränderung der Ost-West-Beziehungen einläutet, lassen die in ganz Mitteleuropa aufkeimenden ethnischen und nationalen Autonomiebestrebungen ernste Bedenken in bezug auf die eigentliche Bedeutung der Zeit des Kalten Krieges aufkommen. Weit davon entfernt, den Optimismus jener zu rechtfertigen, die darin das „Ende der Geschichte“ sehen wollen, beobachten wir vielmehr eine Rückkehr zur Geschichte. Erinnern uns die Konvulsionen in den Trümmerhaufen der kommunistischen Systeme nicht an die Erschütterungen jener Zeit, als Kolonialreiche zerfielen und neue Staaten entstanden? Von Berg-Karabach und Zentralasien bis zu den baltischen Ländern, vom jugoslawischen Kosovo bis zum rumänischen Siebenbürgen, von Moldavien bis zu Bulgarien: die Liste der „Orte des Erinnerns“ ist lang, wo ethnische und regionale Forderungen erhoben werden, die jede auf ihre Weise von kollektiven Identitäten auf der Suche nach Autonomie zeugen. Dort gehen überall wie in den meisten Staaten der Dritten Welt die Veränderungen der zivilen Gesellschaft mit Versuchen einher, den geographischen Raum neu zu gestalten.

Mit dem Abklingen der Ost-West-Konfrontation und der damit verbundenen Gefahren einer Eskalation aufgrund von Interventionen der Supermächte entwickeln sich die Ereignisse nach den Gesetzen einer komplexeren Logik, die sich aus einer Reihe lokaler und regionaler Faktoren ableitet. Die bipolare Internationalisierung der ethnischen Konflikte, deren Hauptmerkmal es war, die Kontrahenten zu Satelliten zu machen, wird – so möchte man sagen – weltweit durch eine „Ethnisierung“ der internationalen Beziehungen abgelöst.

Einige Beispiele mögen die Widersprüchlichkeit dieser neuen Konstellation illustrieren: Während 1988 in Angola und Namibia unter der Schirmherrschaft der USA und der UdSSR Friedensabkommen geschlossen werden, verschlechtern sich im selben Jahr, dem Wendejahr der Perestroika, wegen des Status der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänien. Im selben Jahr kommt es infolge der Zwistigkeiten zwischen Albanern und Serben im Kosovo zu schweren Spannungen zwischen Albanien und Jugoslawien. Es kommt zwischen Armeniern und Aseris in Berg-Karabach und im aserbaidschanischen Sumgait zu blutigen Auseinandersetzungen, die die nach wie vor prekären Beziehungen zwischen dem Iran und der Sowjetunion in Gefahr bringen. Im Gefolge der Auflösung der Blöcke verschärfen sich auch in der Dritten Welt wieder ethnische und regionale Konflikte: der Nord-Süd-Konflikt im Sudan, am Horn Afrikas der Eritreakrieg, die Zusammenstöße zwischen Sindhi und Mohajir in Pakistan, inter- und intrakonfessionelle Gemetzel im Libanon, das sind alles Wunden an der Peripherie, die weiter eitern und Infektionsherde jenseits der Grenzen nähren.

Von den anhaltenden ethnischen und regionalen Spannungen zermürbt, hat die Dritte Welt nicht auf die Perestroika gewartet, um die Risse offenzulegen, die nach dem Zerbrechen des bipolaren Gleichgewichts und der Auflösung der Blöcke überdies zahlreicher und bedrohlicher denn je sind. Offenbar hat die Verringerung der Eskalationsgefahr gleichzeitig eine rasche Ausweitung der Zonen mit Konflikten „geringer Intensität“ mit sich gebracht. Die Folge ist eine Neuformierung der hegemonialen Blöcke. Das ist eine normale Konsequenz der „Entideologisierung“ der Beziehungen zwischen den Großmächten und wird neue Formen einer internationaler Klientelwirtschaft befördern. Während die beiden „Großen“ nicht eingreifen, solange nicht ihre vitalen Eigeninteressen bedroht sind (der Fall Irak ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt), übernehmen neue Regionalmächte die Beschützerrolle der beiden Großmächte, beispielsweise Südafrika, Libyen, Israel, der Irak, Syrien, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle intervenieren um so eifriger, als die Gefahr einer Konfrontation zwischen den Supermächten abnimmt.

Neuerdings wird das Los der Minderheiten als politische Waffe eingesetzt, eine nicht unwichtige Tatsache. Es gibt eine Art Greshamsches Gesetz, wonach die „schwachen“ Ideologien, die die kulturellen und historischen Affinitäten ins Zentrum rücken, die starke Ideologie verdrängen, die auf der Ost- West-Konfrontation aufbaut. Unter verschiedenen Formen und je nach den sehr unterschiedlichen Interessenkalkülen spielt die Ethnizität immer häufiger die Rolle einer Wechselwährung, deren symbolischer oder strategischer Wert von der Konjunktur und dem Umfeld abhängt, in dem es zirkuliert. Wenn die Armee Äthiopiens in Eritrea und in Tigre vernichtende militärische Niederlagen erleidet, zögert die Regierung in Addis Abeba nicht, gegen das „Ausreiserecht“ der jüdischen Minderheit der Falaschen Waffen aus Israel einzuhandeln. Mit der Wahl eines Präsidenten japanischer Herkunft erhofft sich die peruanische Wählerschaft Reichtum, Handelsvorteile und eine blühende Wirtschaft. Im Tschad zieht Gaddafi seine Unterstützung der „arabischen“ Dissidenten zurück, ein notwendiger Kompromiß, um zu einer Regelung des Aouzou-Streifens zu kommen, und ein erster Schritt zur Befreiung der libyschen Soldaten, die auf den Schlachtfeldern von Borkou in Gefangenschaft gerieten. Mit der Auflösung der marxistischen Staatsstruktur hat Mosambiks Regierung erreicht, daß Pretoria seine Unterstützung für die oppositionellen Kräfte auf Sparflamme setzt und zu einer spektakulären Wirtschaftshilfe bereit ist. Die Sowjetunion ist keine Ausnahme. Ob es den Palästinensern paßt oder nicht: Was wäre vernünftiger, um die Perestroika in den Augen des Westens (und besonders der USA) glaubwürdiger zu machen, als die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, die Auswirkungen des russischen Antisemitismus zu modulieren und die Schleusen zur Emigration der sowjetischen Juden weit zu öffnen? Ein Handel ganz anderer Art steht Gorbatschow beim nächsten „Unionsvertrag“ bevor, wenn er den unerbittlichen Drang nach Unabhängigkeit der Ukrainer, Balten, Moldavier, Aseris, Armenier, Georgier und Russen eindämmen will, ganz zu schweigen von der dringlichen Frage der ethnischen Minderheiten, die innerhalb dieser Nationen leben (Abchasen und Osseten in Georgien, Armenier in Aserbaidschan, Gagausen in Moldavien, Russen in Litauen etc.).

Man muß sich davor hüten, in der Ethnizität ein für alle Ewigkeit einsetzbares Tauschmittel zu sehen. Zu viele Minderheiten, in Europa und anderswo, dienten als Sündenbock, wenn nicht gar als Vorwand für mörderische Einmischung in die Politik anderer Staaten, um die Gefahren nicht zu erkennen, die die Überlagerung der ethnischen Konflikte in regionalen Kräfteverhältnissen mit sich bringt. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Wir wollen uns damit begnügen, das ewige und unlösbare palästinensische Problem zu erwähnen, die Zerstückelung des Libanon durch die Intervention israelischer, irakischer und syrischer Truppen, das Chaos in Sri Lanka, wo die Exzesse singhalesischer Extremisten ebenso grausame Übergriffe der tamilischen Minderheit provozieren und umgekehrt, und dies trotz oder vielleicht sogar wegen der Intervention der indischen Armee, oder die Pogrome gegen „Schwarze“ in Mauretanien, die in Dakar grausame Racheakte gegen andere ethnische Gruppen auslösten. So setzt sich bei den Verantwortlichen solcher Massaker eine neue Logik der Konfrontation durch, die eine Einmischung von außen begünstigt.

Zehn Jahre vor dem Ende des zweiten Jahrtausends sind die Länder der Dritten Welt mehr denn je von Krisen überschattet, deren Intensität mit zunehmender Ungleichheit zwischen Ethnien und Regionen wächst und deren Verästelungen die Beziehungen zwischen den Staaten vergiften. Die Warnsignale des Schicksals Osteuropas von dieser Warte aus zu sehen ist nur ein kleiner Schritt, der vielleicht zu schnell gemacht wird. Im Unterschied zur Dritten Welt stehen die Optionen Europas in einem Kontext, in dem sich die Supranationalität täglich neu bestätigt. Gewiß, während 1992 ein entscheidendes Jahr im Verfallsprozeß des Europas der Vaterländer sein wird, erhebt im Osten das Europa der Vaterländer sein Haupt. Einerseits gibt es einen Integrationsprozeß, der sich auf neue supranationale Räume bezieht, auf der andern Seite nach den Schritten der Befreiung der „gefangenen Nationen“ eine Aufsplitterung der Identitäten. Auf der einen Seite Straßburg, auf der andern Sarajewo. Nur die Zukunft wird zeigen, welche Weichen den Weg Osteuropas wie lenken. Auf jeden Fall ist es nicht unvernünftig, auf die Anziehungskraft einer erweiterten Gemeinschaft zu setzen und diesbezüglich darauf hinzuweisen, daß selbst der partielle Verzicht auf nationale Souveränität den Schritt in die „Schicksalsgemeinschaft“ nach Straßburg nicht verhindern soll, wenn sich damit die Möglichkeit des Entstehens einer zivilen Gesellschaft abzeichnet, die gegenüber ihren ethnischen und nationalen Gruppen Verantwortung übernimmt.

Rene Lemarchand ist ein Mitarbeiter der Universität Florida