MULTIPOLARE WELT
: Durch tausendundeine Hölle ...

Gäbe es in Kuwait Orangenplantagen anstelle der Ölfelder, hätten die „US-Teufel“ sich nicht im Herzen der arabischen Welt eingenistet. Doch in der gegenwärtigen Golfkrise manifestiert sich auch die Krise der arabischen Welt. Zwar haben sich arabische Nationalisten und islamische Fundamentalisten gegen den gemeinsamen Feind Amerika verbündet, doch die nationale Euphorie dieser Tage ist vielleicht das letzte Aufbäumen einer sterbenden Ideologie; der islamische Fundamentalismus hingegen ist zukunftsträhtig.  ■ VON AHMAD
TAHERI

Seit dem Auftritt Ayatollah Chomeinis auf der weltpolitischen Bühne hat der Satan einen neuen Namen: Amerika. Noch auf dem Sterbebett beschimpfte der selige Imam den „US-Teufel“ als „größten Feind der Gottesschöpfung“. Nun hat der Leibhaftige sich im Herzen der islamischen Welt, im saudischen Wüstenland, eingenistet und trachtet nicht nur nach der Muslimen- Seele, sondern auch nach ihrem Öl. Denn eins steht fest: Gäbe es in Kuwait anstelle der Ölfelder Orangenplantagen oder Olivenhaine, hätte Saddam Hussein zwar eine Menge diplomatischen Ärger in der UNO oder in der Arabischen Liga, doch keine Marines aus dem Satanreich am Halse. In Sachen Öl ist der Westen unerbittlich. Davon hängen schließlich Wohl und Wehe der nördlichen Hälfte des Globus ab. Wer es wagt, an diese Schlagader der westlichen Welt Hand anzulegen, kann nur ein Wahnsinniger, ein Hitler, ein Stalin, ein Dschingis- Khan, ein Jack the Ripper sein. Gestern war der „Irre“ Ayatollah Chomeini, heute ist es Saddam Hussein. Gewiß ist der irakische Staatschef ein machtgieriger, blutrünstiger Tyrann, dessen politischer Lebensweg mit Leichen gepflastert ist. Allein das Massaker an seinen kurdischen Landsleuten reicht aus, um ihn mit gutem Gewissen zur Hölle zu wünschen. Doch das Problem der gegenwärtigen Golfkrise sind nicht die verbrecherischen Neigungen Saddams. In ihm manifestiert sich die Krise der arabischen Welt.

Die jüngste Geschichte der Araber ist eine Geschichte von Niederlagen, Schmach und Enttäuschungen. Sie begann mit der Errichtung des israelischen Staates im Jahre 1948. Ein gemeinsames militärisches Vorgehen der Araber gegen Israel endete für sie in einem militärischen Desaster. 1967 schlug der jüdische David im Sechstagekrieg den arabischen Goliath. Die Bilder barfüßiger ägyptischer Soldaten, die angeblich vor israelischen Truppen flohen, wurden zu einem arabischen Trauma. Israel ist bis heute Pfahl im arabischen Fleisch. Die weltweite Entspannung zwischen den beiden Supermächten hat die arabische Lage noch hoffnungsloser erscheinen lassen. Solange die Araber als jeweilige Verbündete dieser oder jener Supermacht fungierten, hatten sie zumindest das trügerische Bewußtsein, in der weltpolitischen Arena eine Rolle zu spielen. Mit dem Schulterschluß der beiden Supermächte aber ist die arabische Welt erneut ins politische Abseits zurückgeworfen. Das Gefühl, nur noch als Öllieferanten wahrgenommen zu werden, trotz des Reichtums, der ihnen von der Natur oder von Allah beschert wurde, arm und ohnmächtig zu sein, bestimmte die politische und psychische Befindlichkeit der Araber. Das Gefühl der Ohnmacht verlangte nach einem mächtigen Mann. Saddam bot sich an.

„O du großes irakisches Volk“, rief der Chef der sozialistischen Baath-Partei des Iraks zum Dschihbad, zum Heiligen Krieg auf, „o du große arabische Nation, ihr Muslime der Welt! Allah hat uns auserwählt, um die Führung dieser Gemeinschaft in die Hand zu nehmen. Kämpfet gegen diejenigen, derer sich Satan vom Scheitel bis zur Sohle bemächtigt hat! Kämpft gnadenlos gegen die Ungläubigen, die das heilige Land mit ihrer Gegenwart entweihen! Die große Schlacht hat begonnen zwischen den muslimischen Völkern und den Feinden Allahs!“ Nicht nur das unkundige Volk zwischen dem Jemen und Jerusalem, Mauretanien und Mesopotamien huldigte dem Tyrannen vom Tigris als „Asad el-Arab“, als Löwen der Araber. Im Schatten des arabischen „big brother“ reichten sich auch die beiden politischen Richtungen, die heute in der nahöstlichen Arena am Werk sind, die Hände: die arabischen Nationalisten und die islamischen Fundamentalisten, diese aus Haß gegen den amerikanischen Teufel, jene aus Groll gegen den US-Imperialismus. Der Schulterschluß der beiden ansonsten verfeindeten Ideologien wäre in den nichtarabischen Ländern des Islam, wie etwa in der Türkei oder im Iran, weitaus schwieriger zustande gekommen. In diesen beiden Ländern knüpfen die Ideologen der nationalen Renaissance an ihre vorislamische Geschichte an. Die Panturkisten glorifizieren die Helden der heidnischen Hunnen, Hetiter und Mongolen, die iranischen Nationalisten sehen ihr politisches Ideal in den Reichen der Hachameniden und Sassaniden. Der letzte Schah von Persien nannte sich „Sonne der Arier“. Er schaffte sogar zur allgemeinen Befremdung den islamischen Kalender ab. Über Nacht sahen sich die Iraner in das 26. Jahrhundert nach Kyros versetzt, nachdem sie den Vortag im 14. Jahrhundert nach Hidschra, der Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina, verbracht hatten. Erst Ayatollah Chomeini drehte das Rad der Geschichte wieder um 1.200 Jahre zurück.

Für die Araber hingegen fällt die arabische und islamische Geschichte weitgehend zusammen. Das vorislamische Arabertum gibt wenig her für erhebende nationale Gefühle: Vor dem Auftritt des Propheten im Jahre 610 christlicher Zeitrechnung lag die Arabische Halbinsel, das Stammland der Araber, im toten Winkel der Weltgeschichte. Die damaligen „Supermächte“, die persischen und byzantinischen Reiche, machten in ihrem Kampf um die Herrschaft im Vorderen Orient stets einen großen Bogen um die durstige Wüste Arabiens. Die Bevölkerung bestand tatsächlich aus den Beduinen, die sich fortwährend um Weidegrund und Wasserstellen bekriegten und ansonsten ihre vierhundert Götter in Steinen oder Bäumen verehrten. Als der Prophet 632 starb, war Arabien unter dem grünen Banner des Islam geeint. Und bald standen die muslimischen Kämpfer im Osten an den Gestaden des Hindus, im Westen an den Füßen der Pyrenäen. Die heutigen nationalgesinnten arabischen Autoren auch christlicher Herkunft lassen keine Gelegenheit aus, die arabischen Verdienste der frühislamischen Zeit, namentlich der Omajaden, herauszustellen. Andererseits bildet die „Arabia“, das Arabertum, einen integralen Bestandteil des religiösen Bewußtseins des Moslems. Mohammed war schließlich ein Araber, und – noch wichtiger – der Allmächtige spricht im Koran ein gereimtes und rhythmisches Hocharabisch von unnachahmlicher Eloquenz. Mit der gemeinsamen Geschichte und Sprache sind aber auch die Berührungspunkte von Nationalisten und Fundamentalisten schon erschöpft. In den politischen Fragen der Gegenwart und Zukunft scheiden sich die Geister: Während die Fundamentalisten von einem theokratischen Staat träumen, gegründet auf dem Koran und der Sunna, der prophetischen Überlieferung, schwebt den arabischen Nationalisten ein gesamtarabisches Vaterland vor, in dem die Religion eine private Angelegenheit ist.

Der arabische Nationalismus war stets panarabisch. Die arabischen Nationalstaaten gingen meist aus der Konkursmasse des osmanischen Reiches hervor, zu dem auch der arabische Raum seit mehr als vierhundert Jahren gehörte. Bei ihrer Taufe standen koloniale Interessen, namentlich die der Briten, Pate. Die Grenzen wurden an den Schreibtischen der Kolonialoffiziere in London oder Paris gezogen. So gibt es heute in den arabischen Staaten kein historisch gewachsenes nationalistisches Bewußtsein. Ein Kuwaiti, Iraker oder Jordanier versteht sich in erster Linie als Araber.

Die Anfänge der arabischen nationalen Idee reichen bis an den Anfang dieses Jahrhunderts zurück. Zuerst war es eine literarische Renaissance. Arabische Intellektuelle meist christlicher Herkunft begannen um die Jahrhundertwende mit der Pflege der arabischen Sprache und Dichtung. Nach der Revolution der Jungtürken im Jahre 1908 mündete die literarische Renaissance in den nationalen politischen Widerstand gegen die türkische Vorherrschaft. Daß die christlichen Maroniten, meist westlich ausgebildet, dabei eine wichtige Rolle spielten, kam nicht von ungefähr. Sie erhofften sich von einem säkularisierten arabischen Staat ihre Emanzipation in einer vorwiegend muslimischen Umwelt. Auch der Begründer des neuen Panarabismus war ein syrischer Christ namens Michel Aflak. Er gründete 1947 die „Partei der arabischen Wiedergeburt“: die Baath-Partei.

Mit der Devise „Vom Atlas bis zum Arabischen Meer“ plante Aflak, in allen arabischen Ländern die Baath-Partei zu etablieren. Sie sollte, auf welchem Wege auch immer, parlamentarisch oder gewaltsam, in jedem Staat die Macht ergreifen, um die gesamtarabische Einheit einzuleiten. Die Baath-Partei gelangte 1963 in Damaskus und 1968 in Bagdad zur Macht. Wirklich populär wurde der Traum von der arabischen Einheit aber erst durch Gemal Abdul Nasser.

Mit der Verstaatlichung des Suezkanal im Jahre 1956 wurde der charismatische Staatspräsident Ägyptens zum unumstrittenen Helden aller Ägypter und zum Symbol der arabischen Einheit. Doch bald zeigte sich der Panarabismus als eine bloße Fiktion. Nach der Niederlage Ägyptens 1967 gegen Israel verglimmte der Steppenbrand der arabischen Einheit als Strohfeuer. Am starken Arm Saddam Husseins hat sich der arabische Nationalismus noch einmal aufgerichtet. Die lautstarke nationale Euphorie dieser Tage ist vielleicht das letzte Aufbäumen einer sterbenden Ideologie. Die panarabische Einheit hat ihre Zukunft bereits hinter sich.

Zukunftsträchtig ist hingegen der islamische Fundamentalismus. Nach dem Tod Ayatollah Chomeinis, der Symbolfigur des radikalen Islam, dachte man im Westen, daß nun der islamischen Bewegung der Atem ausgegangen sei. Ein fataler Irrtum, wie sich bald herausstellte. Sicher büßte der schiitische Fundamentalismus mit dem Ableben seines Führers viel an Kraft ein. Für die sunnitischen Islamisten aber war der Verlust des greisen Imam im fernen Teheran nur insofern wichtig, als sie endlich aus seinem Schatten heraustreten konnten. Seitdem der iranische Revolutionsführer in seinem prachtvollen Mausoleum die ewige Ruhe gefunden hat, feiern die radikalen Sunniten einen Sieg nach dem anderen: Sie wurden bei den jordanischen Parlamentswahlen zur stärksten Fraktion, bei den Kommunalwahlen in Algerien erzielten sie sensationelle Ergebnisse. In den von Israel besetzten Gebieten macht inzwischen die fundamentalistische Hammas (“Begeisterung“) der laizistisch-nationalistischen PLO die Führung des palästinensischen Widerstands streitig. Der Rückgriff auf den Islam als politische Ideologie hat seine Wurzeln in der politischen und kulturellen Entwicklung der islamischen Welt der letzten hundert Jahre. Im Zuge der Entkolonialisierung entstand zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Reihe von nationalen Staaten auf islamischem Boden. Sie waren nach westlichem Vorbild organisiert und wurden dementsprechend von westlich gebildeten laizistischen Eliten geführt. Das vom Nationalstaat erhoffte Heil ließ indessen auf sich warten.

Die politischen und ökonomischen Abhängigkeiten blieben bestehen oder wurden sogar noch größer. Hinzu kam eine größer werdende kulturelle Dominanz des Westen, welche die angestammten Werte und herkömmlichen Lebensformen der muslimischen Bevölkerung zu zerstören drohte. So ist es wenig erstaunlich, daß sich viele Moslems auf das zurückbesinnen, was ihr Bewußtsein und ihre Identität am ursprünglichsten bestimmt: auf den Islam. Die neuen islamischen Fundamentalisten sind mit der Verheißung angetreten, mit dem gottlosen Status quo aufzuräumen und eine islamische „civitas dei“ zu errichten, in der den Gläubigen nicht nur das Heil im Jenseits, sondern auch das Glück im Diesseits beschieden ist. Solange die arabische Jugend von Frustration, Enttäuschung und Perspektivlosigkeit heimgesucht ist und solange die arabischen Massen das Gefühl haben, daß der Westen sich nur für arabisches Billigöl interessiert, die arabische Religion und Kultur aber mit kolonialem Dünkel belächelt oder verachtet, werden die Fundamentalisten „mit der Wucht eines Erdbebens“ wachsen, wie Saib Salam, der ehemalige libanesische Ministerpräsident, sagte. Der islamische Fundamentalismus kann – im Gegensatz zum arabischen Nationalismus – auch aus Niederlagen politischen Profit ziehen.

Die arabischen Völker befinden sich wahrlich in einer Sackgasse ihrer Geschichte. „Ex oriente lux“ hat schon lange seinen Sinn verloren, und die Lichter, die aus dem Westen herüberstrahlen, haben sich längst als Irrlichter erwiesen. Vielleicht müssen die Araber durch tausendundeine Hölle gehen, bevor sie den Weg in die Zukunft finden, der ihrer großen Geschichte und ihrem reichen kulturellen Erbe genauso angemessen ist wie den Erfordernissen einer in stetigem Wandel begriffenen Welt.

Ahmad Taheri ist Islamwissenschaftler, Essayist und Journalist. Er lebt in Frankfurt am Main.