MULTIPOLARE WELT
: "Die Sowjetunion ist ein führendes Mitglied der Dritten Welt"

■ Interview mit dem Sicherheitsberater der US-Regierung unter Carter, VON ZBIGNIEW BRZEZINSKI

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Zbigniew Brzezinski: Nein, dem stimme ich so nicht zu. Diese Feststellung ist halb richtig und halb falsch. Halb richtig ist sie, weil die Sowjetunion diese Fähigkeit nicht mehr hat; und halb falsch ist sie wegen der Behauptung, daß auch die Vereinigten Staaten sie nicht mehr haben.

Ich meine, für jeden logisch denkenden Menschen, der auch nur ein bißchen Ahnung von Weltpolitik hat, ist es klar, daß die Sowjetunion mit ihrem Anspruch auf den Status einer Weltmacht gescheitert ist. Ich betone das Wort Anspruch, denn es ist immer meine Meinung gewesen, die ich offen und auch schriftlich geäußert habe, daß die Sowjetunion sowieso nie eine wirkliche Weltmacht war, sondern nur eine militärische Supermacht. Außerdem ist es ganz offensichtlich, daß es heute in der ganzen Welt nur eine Supermacht gibt, und das sind die Vereinigten Staaten. Die USA sind die einzige Macht der Welt, der all die verschiedenen Mittel einer Weltmacht zur Verfügung stehen. Die Sowjetunion hat nur militärische Macht, aber in einer Weise, die an Bedeutung verliert. Deutschland und Japan sind Weltmächte des Handels und der Finanzen. Aber sie haben die anderen Eigenschaften nicht, die zum Status einer Großmacht gehören. Wir leben also in einer Epoche, in der Amerika mehr und mehr im Zentrum der Weltpolitik steht, ganz gleich, ob einem das gefällt oder nicht.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Ich bin sehr für eine engere Zusammenarbeit Amerikas mit Deutschland und Japan in internationalen Angelegenheiten. Ich meine aber, wenn man ernsthaft über Geopolitik spricht, muß man zwischen Tatsachen und Wunschbildern unterscheiden. Europa als geopolitisches Faktum gibt es nicht. Es ist dabei, zu entstehen, aber noch existiert es nicht. Und allein schon die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern im Zusammenhang mit der Golfkrise demonstrieren das. Es gibt drastische Unterschiede in der Einschätzung der Golfkrise durch Herrn Gonzales oder Herrn Andreotti oder Herrn Mitterrand oder Frau Thatcher oder Herrn Kohl. Und Japan ist nicht in der Lage, irgendeine Verantwortung für die internationale Sicherheit zu übernehmen, und das wird noch eine ganze Weile so bleiben. Kurz gesagt, ich finde, solche Kommentare sind nur Slogans, aber keine Analysen.

Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?

Die allgemeine Stoßkraft der Geschichte geht hin zu verstärkter Interdependenz und damit zwangsläufig zu zunehmender internationaler Zusammenarbeit. Das schließt ein gelegentliches Wiederaufleben von nationalistischen Leidenschaften und damit von nationalem Determinismus in der Haltung von Staaten nicht aus. Der langfristige Trend geht aber, insbesondere wegen der Veränderungen in Weltwirtschaft und –kommunikation, ganz klar zu verstärkter Interdependenz.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?

Es ist wahrscheinlicher, daß sie durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen gekennzeichnet sein werden. Was jetzt zum Beispiel im Persischen Golf passiert, ist ein gutes Beispiel. Und das könnte sich in anderen Teilen der Dritten Welt wiederholen. Es ist zum Beispiel wahrscheinlich, daß es in dem Gebiet, das noch Sowjetunion genannt wird, verstärkte Konflikte geben wird. Und wie jeder vernünftige Mensch weiß, ist die Sowjetunion weder Mitglied noch Anführer der sogenannten zweiten Welt, weil es die nicht gibt, sondern sie ist ein führendes Mitglied der Dritten Welt. Sie ist ein führendes, aber sich auflösendes Mitglied, und daher werden ihre internen Probleme solche Phänomene sein, die Sie hier als Süd-Süd bezeichnen, aber sie werden Nord-Süd-Konsequenzen haben.

Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?

Wenn Sie von den 90er Jahren reden, dann wird das Gebiet Persischer Golf-Mittlerer Osten weiterhin am gefährlichsten sein; zweitens könnte es durchaus auch die frühere Sowjetunion oder Südosteuropa sein, besonders Jugoslawien, Albanien, Bulgarien, so in dieser Richtung...Aber die beiden ersten werden wahrscheinlich ernstere Ausmaße haben. Es wird auch Probleme in Südafrika geben, aber derartige Probleme wirken sich nicht auf die Welt als Ganzes aus. Wovon ich hier spreche, sind Probleme, die die Möglichkeit einer dynamischen Eskalation beinhalten.

Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?

Ich meine, so große Unterschiede wird es da nicht geben. Der Vorrang des militärischen Faktors wird allerdings durch den Zusammenbruch der sowjetischen Herausforderung wahrscheinlich etwas abnehmen. Und als Folge davon werden wirtschaftlicher Erfolg und kultureller Einfluß vermutlich zunehmend wichtiger. Die Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und kulturellem Einfluß könnte, wenn Sie so wollen, so etwas wie Ideologie sein. Ich meine, es besteht heutzutage die Gefahr, daß wir zu einem allzu vereinfachten Glauben an Modelle mit freiem Markt und großem Wohlstand neigen, wie etwa die Vereinigten Staaten, Japan und Deutschland. Und für Menschen, die vorher einen simplistischen ideologischen Glauben an den Sozialismus hatten, wird das jetzt zur neuen Alternative. Die globale Stärke Amerikas beruht jedenfalls in hohem Maß auf der enormen Beherrschung des Kommunikationsflusses. Wenn man den Fluß der weltweit zirkulierenden Worte und Bilder in Zahlen ausdrücken würde, dann stammen ungefähr 80 Prozent davon aus den Vereinigten Staaten.

Kultur ist auch religiöse Ideologie, wie der Islam; aber ich habe eher den Einfluß der Massenkultur und die politische Kraft zur Imitation gemeint. In dieser Hinsicht ist es unwichtig, ob man die amerikanische Massenkultur mag oder ob man sie vulgär findet; entscheidend ist, daß sie „imitiert wird“ und damit die Rolle Amerikas maximiert.

Der polnische Schriftsteller Krzystof Pomian faßt mehrere Jahrhunderte europäischer Geschichte in der Feststellung zusammen, daß die Nationen schließlich immer über Europa gesiegt haben. Gilt dies auch für das kommende Jahrzehnt?

Diese Interpretation finde ich als Diagnose der Vergangenheit richtig. Aber sie betrifft hauptsächlich einen Teil der europäischen Geschichte, der von den Nationalstaaten beherrscht war. Das ist jedoch nicht die ganze europäische Geschichte. Es hat vor der Entstehung der europäischen Nationalstaaten eine „europäische Geschichte“ gegeben; und es wird bestimmt eine europäische Geschichte geben, wenn die Nationalstaaten etwas anderes geworden sind als das, was sie auf dem Höhepunkt der Idee des Nationalstaats – also im 19. und 20. Jahrhundert – gewesen sind. Man kann deshalb nicht ausschließen, daß Nationen auch zu Teilen eines größeren kooperativen Systems werden, das sich mit der Zeit Loyalität erwirbt. Und so kann es eine Situation geben, in der Nationalstaaten einerseits zur Loyalität mit einem größeren System führen, gleichzeitig aber auch zur Loyalität mit Teilen, die kleiner als ein Nationalstaat sind, mit Regionen oder Provinzen. Mit anderen Worten: Der Nationalstaat war ein wichtiger, substantieller Ausdruck dessen, worum es beim Menschen geht. Aber er ist nicht unveränderlich, und er definiert sich im Laufe der Geschichte neu.

Welche besondere Rolle sehen Sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?

Nun, darauf habe ich schon geantwortet. Ich meine, die Verantwortung Amerikas, das den Kalten Krieg gewonnen hat und heute die einzige Supermacht ist, besteht einfach darin, die amerikanische Führungsrolle in die stärker institutionalisierten Formen einer breiteren internationalen Zusammenarbeit zu überführen. Mit anderen Worten: Keine Epoche imperialer amerikanischer Vorherrschaft, sondern eine Epoche, in der die amerikanische Führerschaft in der Welt dazu genutzt wird, funktionsfähige Institutionen der internationalen Zusammenarbeit zu schaffen. Sie würden zunächst darauf basieren, die Verantwortungen und Belastungen mit dem sich vereinenden Europa und mit Japan zu teilen, bald aber auch mit anderen erfolgreichen Demokratien mit freier Marktwirtschaft im Fernen Osten, zum Beispiel Korea, Taiwan, Thailand, Australien und Neuseeland.

Es gibt Interessenkonflikte, etwa zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland oder zwischen den Vereinigten Staaten und Japan, und diese Konflikte werden weiterhin bestehen. Aber ich glaube nicht, daß diese Konflikte zum wesentlichen Moment der Beziehung werden müssen, selbst wenn sie sehr wichtig sind.

Siehe auch die von Brzezinski gezeichnete Karte auf Seite 5.