Die Nacht der Plastiktüten

■ Unterwegs in der Sylvesternacht / Eine Bremer Weltreise mithilfe der öffentlichen Verkehrsmittel

An Sylvester ist der Unterschied zwischen Menschen, die arbeiten müssen und denen, die sich vergnügen dürfen, leicht zu sehen: Wer eine Plastiktüte in der Hand hält, mit Knallkörper und Sekt darin, will auf eine Jahresendparty. Bei allen anderen ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, daß es sie diesmal erwischt hat. Sie müssen arbeiten.

Kurz nach acht Uhr abends, Miß Sophie hat den volltrunkenen James erst vor ein paar Minuten auch diesmal wieder die Treppe hochlocken können, warten an den Haltestellen der Bremer Straßenbahn AG in der östlichen Vorstadt zahlreiche Menschen auf eine Straßenbahn — die meisten mit einer Tüte in der Hand. Daß Busse und Bahnen am letzten Tag im Jahr nach dem Sonnabendfahrplan verkehren, erweist sich als kluge Einschätzung der Verantwortlichen. Die Fahrzeuge sind gut gefüllt, an einen Sitzplatz ist vorerst nicht zu denken. Aber das ist auch nicht so schlimm, denn immerhin haben wir an diesem so vernügungsträchtigen Abend eine öffentliche Nahverkehrsreise quer durch die Hansestadt vor. Es soll nach Bremen Nord und zurück gehen. Da wird noch genug Zeit zum Sitzen bleiben.

Am Sielwall muß sich die Bahn bereits über verqualmte Schienen quälen. Jemand will einen Kracher in die Fahrertür werfen, aber die ist schon zu. „Alles Routine“, sagt der Fahrer. Um kurz nach neun sind wir in Gröpelingen, und auch dort gibt es business as usual. Die Nachtschicht des Betriebshofes stellt wie gewohnt Weichen und wartet die Fahrzeuge, hin und wieder gestört von einem Angetrunkenen, der Feuerwerkskörper aus seiner Tragetasche fingert und versucht, sie den Arbeitern entgegenzuwerfen.

Für den Fahrer der Linie 71 nach Neuenkirchen ist Sylvester ein Arbeitstag wie jeder andere. Sein Kollege, den er ablöst, warnt ihn zwar vor lebensgefährlichen Böllerattacken von Jugendlichen auf der Fahrt nach Marßel, aber darauf gibt er nicht viel. Er muß bis um fünf Uhr morgens durchhalten und bereits zehn Stunden später wieder hinter dem Steuer sitzen. Da mag er sich nicht aufregen, über gar nichts. Nicht über die unglückliche Schicht, „an so einem Tag tauscht sowieso niemand, auch wenn du Familie hast“ und auch nicht über die Vollmondnacht. Er hat schon ganz andere „Säufersonnen“ überlebt, sagt er. Hinter seinem Sitz klötert eine Plastiktüte mit Getränken, die abgegeben wurde. „Was das arme Schwein wohl ohne seine Zechereien macht?“

In Neuenkirchen sind sprichwörtlich bereits die Bürgersteige hochgeklappt, wir rollen auf der Rückfahrt an Fenstern vorbei, hinter denen Tannenbäume und Fernseher leuchten. Die Landesgrenze feiert häuslich, die Straßen sind fast autoleer.

Über Funk werden alle Fahrzeugführer aufgefordert, nur noch die erste Tür zu öffnen. „Grund: Knallkörper“ schnarrt eine Stimme. Es geht zurück zum Depot und gleich weiter durch den Industriehafen zum Endhaltepunkt Marßel. Null Uhr. Es ist 1991, das neue Jahrzehnt. Aber Bombenstimmung? Der Fahrer ist weiter stoisch und auch die MarßelerInnen geben sich moderat. Außer einem Kinderwagen mitten auf der Straße, Leuchtspurmunition, die den Gelenkbus umschwirrt und Gasrevolverschützen in Haltestellen-Wartehäuschen ist nichts besonderes zu entdecken.

Als gegen ein Uhr die Straßenbahn an der Domsheide anhält und es nicht mehr weitergeht, wg. Sielwallkreuzung, fällt erst auf, wie ruhig doch die Nacht im Bus war. Marodierende Horden werfen immer noch Flaschen gegen alles und jedes. Es riecht nach Feuerwerkspulver und überall liegen Plastiktüten. Die braucht jetzt niemand mehr. Lobsang Samten