Dirigistische Zentralentscheidungen-betr.: "Tabula rasa an ostdeutschen Universitäten", taz vom 20.12.90

betr.: „Tabula rasa an ostdeutschen Universitäten“,

taz vom 20.12.90

„Tabula rasa an ostdeutschen Hochschulen“ klingt erschreckend, überrascht aber nicht. Die „Abwicklung“ der ostdeutschen Hochschullandschaft war nicht nur angesichts des üblichen politischen Umgangs mit dem Beitrittsgebiet oder der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe zu erwarten. Westdeutsche Hochschul-, Bildungs- und Forschungspolitik hat seit jeher den Charakter dirigistischer Zentralentscheidungen, die in aller Regel nicht mit den betroffenen Einrichtungen koordiniert sind.

Ein deutliches Signal zur geplanten Fortsetzung dieser Politik wurde erst kürzlich gesetzt. Das Möllemann-II-Programm (in Fachkreisen Nachrüstungsprogramm für die Hochschulen genannt) als Antwort auf die Unimut-Bewegung letzten Jahres, ist nicht nur an den Bedürfnissen und Vorstellungen der Hochschulen vorbeigeplant und vom finaziellen Volumen her nicht bedarfsgerecht. Es ist vor allem ein katastrophaler Einschnitt in die universitäre Beschäftigungsstruktur und finanzielle Ausstattung des wissenschaftlichen Nachwuchses mit der absehbaren Konsequenz, daß die Hochschulen als Berufsfeld keine Zukunft mehr bieten. Dies unter anderem deswegen, weil die Finanzierung der WissenschaftlerInnen bis zur Berufung zum Ordinarius auf Stipendienbasis ohne Sozialversicherungen erfolgen soll. Auf die berechtigten Forderungen des Unimuts und des westdeutschen Wissenschaftsrates wurde in der konkreten Ausgestaltung dieses Programms kein Bezug genommen. Weder wird der Personalbestand bedarfsgerecht aufgefüllt [...], noch ändert sich Entscheidendes am Sachmittel-, Lehrmittel- und Bibliothekshaushalt.

Für die Hochschulen und Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR werden leider — aber konsequenterweise — die entsprechenden Patentrezepte mit den griffigen Worten „Abwicklung“ und „Revitalisierung“ genauso schnell und praxisfern aus dem politischen Zauberhut gezogen, wie zum Lehrnotstand an westdeutschen Universtitäten. Letztere werden das genauso unzulänglich in die Praxis umsetzen müssen, wie ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern.

Das bundesrepublikanische Prinzip der Forschungs- und Bildungspolitik unterscheidet sich bedauerlicherweise nur in der ideologischen Zielsetzung, aber nicht in seiner zentralistischen Struktur und auch nicht in seiner kompromißlosen Ideologiedurchsetzung von dem, was über vierzig Jahre hinweg Prinzip im SED-Staat war. Mögen sich die beigetretenen StudentInnen samt Lehrkörper damit trösten, daß völlig egal ist, in welchem der alten oder neuen Bundesländer sie sich wissenschaftlich engagieren; weder auf sie, noch auf das westdeutsche Pendant wird gehört oder gar Rücksicht genommen werden. Joachim Hartinger, München