Kriminelle Gene?

■ Assoziierte Krankheiten und Erbanlagen auf Hochglanz

Leuchtend lila, orange, gelb und blau erstrahlt das Erbgut in dem gläsernen Menschen. Diesen farbenprächtigen Eindruck vermittelt jedenfalls eine dem Wissenschaftsmagazin 'Science‘ (vom 12.Oktober 1990) beigelegte Karte, die den Stand der Erforschung des menschlichen Genoms darstellt. Unsere 22 Chromosomen nebst einem X- und einem Y-Chromosom sind dort auf Hochglanz zu bewundern. Die Anzahl der bisher analysierten Chromosomenabschnitte und DNS-Sequenzen sowie der Standort einzelner Gene und mit ihnen assoziierter Krankheiten sind gekennzeichnet. Ein merkwürdiges, eingeschränktes Spiegelbild der „Krone der Schöpfung“! Das und nicht mehr soll den Mensch zum Menschen machen?

Gene sind dieser Tage Trumpf. Daniel Koshland, Herausgeber von 'Science‘, scheut sich nicht das ganz heiße Eisen anzufassen: Gene und Kriminalität. „Die rationale Anwort aufs Irrationale“, überschreibt er seinen Beitrag. Am Beispiel eines Amokläufers, der im Oktober in einer kalifornischen Kneipe Geiseln nahm, eine davon tötete und mehrere schwer verletzte, baut er seinen Fall auf. Bisher, so Koshland, habe die Gesellschaft auf solches Verhalten mit der „gründlichen Analyse der Kindheit“ der Täter reagiert. „Jetzt aber“, fährt der Autor fort, „ist es Zeit für die Welt zu erkennen, daß das Gehirn ein Organ wie andere Organe ist..., das nicht nur wegen Mißbrauchs fehlfunktionieren kann, sondern auch wegen vererbbarer Defekte, die mit Umwelteinflüssen nicht das geringste zu tun haben“.

Mit Hilfe der Genomanalyse will Koshland jene identifizieren, die „ernsthaft krank sind und nicht nur harmlose Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm“ darstellen. Die Genomanalyse als Werkzeug zur Verminderung von Verbrechen also!? Koshland pflichtet bei: Die Situation in den psychischen Anstalten muß verbessert, der Verkauf von Schußwaffen strenger kontrolliert und Bewährungshelfer gründlicher geschult werden. Doch diese Schritte nennt er „Symptomkuriererei“. Unerwähnt bleibt, daß der leichte Zugriff zu Handfeuerwaffen erheblich zur hohen Mordrate in den USA beiträgt. Daß mißhandelte oder in Armut lebende Kinder öfter zu Straftätern werden als unbeschwert aufwachsende Jugendliche. Daß Kriminalität dann ansteigt, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Diese Faktoren sind für eine erschreckende Steigerung von Gewaltverbrechen in den USA der achtziger Jahre (und in der Sowjetunion der neunziger Jahre?) verantwortlich. Die Suche nach der Kriminalität in den Genen ist angesichts dessen kaum eine „rationale Antwort aufs Irrationale“, sondern ein beängstigender Fall wissenschaftlicher Hybris. Dabei sieht der gläserne Mensch so unschuldig auf dem bunten Poster mit dem Titel The Human Genome Map 1990 aus. Silvia Sanides