Genomanalyse: Alle Macht den Genen

Amerikanischer Forscher glauben erstmals die Position eines Gens, das eine vererbbare Form des Brustkrebses auslöst, lokalisiert zu haben/ Aber die Entdeckung verspricht noch lange keine Heilung/ Enthüllunglust der Genetiker kennt keine Grenzen  ■ Von Silvia Sanides

„Tausende von Krankheiten gehen auf defekte Gene zurück“, schrieb kürzlich James Watson, Mitentdecker der Struktur der DNS-Doppelhelix, in der 'New York Times‘. Watson leitet im Auftrag der US-Regierung das „Human Genome Project“, ein Megaforschungsunternehmen, das die Kartierung des gesamten menschlichen Erbguts (Genom) zum Ziel hat.

Das Projekt wird vielseits kritisiert, weil es einen großen Anteil des schrumpfenden Forschungsetats schluckt. Mit dem Versprechen, die Ursache vieler Krankheiten im Erbgut aufzudecken, will Watson seine Kritiker vom Segen seiner Forschung überzeugen. In den Genen will er künftig nach den erblichen Komponenten von „Schizophrenie, Alzheimerscher Krankheit, Alkoholismus und manischer Depression“ fahnden. Auch die Ursache des Krebses vermutet er im Erbgut. Was mit dem neuen Wissen geschehen soll, läßt Watson offen. Die Erfahrung lehrt, daß die Entdeckung genetischer Veranlagungen für Krankheiten noch lange keine Heilung verspricht. Immerhin ist die genetische Ursache der Sichelzellenanämie (Gelenkschmerzen) seit zwanzig Jahren bekannt. Eine Therapie gibt es jedoch heute noch nicht. Kritik dieser Art hinderte die Genforscher jedoch nicht daran, ihre jüngste aufsehenerregende Entdeckung, ein vererbbares Krebsgen, gebührlich zu feiern.

„p53“ läßt sich nicht mehr dirigieren

Eine erbliche Mutation im „p53“-Gen soll für das „Li-Fraumeni“-Syndrom verantwortlich sein, bei dem gehäufte Krebserkrankungen innerhalb einer Familie auftreten. Dies berichtete im November David Malkin vom „Massachusetts General Hospital“. Das „Tumor Suppressor Gene“ (Tumor-Unterdrücker-Gen) „p53“ ist den Krebsforschern schon lange bekannt. Es ist für die Produktion eines Eiweißes verantwortlich, das Zellen dazu bewegt, nach einer bestimmten Anzahl von Zellteilungen ihre Vermehrung einzustellen. Die mutierte Form des Gens verliert die Fähigkeit, die Synthese des teilungshemmenden Eiweißstoffes zu dirigieren. Die Mutation ist bereits in den Zellen vieler Krebstumoren nachgewiesen worden. Die Forscher nahmen bisher an, daß die „p53“-Mutation bei der Transformation von einer normalen Zelle zu einer Krebszelle auftritt.

Jetzt fanden sie das mutierte Gen bei fünf untersuchten „Li-Fraumeni“-Familien nicht nur in Tumoren, sondern in allen Zellen der Krebskranken. Das defekte Gen wird offensichtlich von einer Generation zur nächsten weitervererbt. Die Mitglieder der hundert bisher bekannten „Li-Fraumeni“-Familien sind während ihrer Kindheit meist gesund, doch erkranken fast 50 Prozent — Bevölkerungsdurchschnitt ein Prozent — von ihnen bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr an einer oder mehreren Krebsarten. Am weitaus häufigsten tritt bei den Frauen Brustkrebs auf. Im Alter von siebzig Jahren sind über neunzig Prozent der Familienmitglieder krebskrank. In den untersuchten Familien trugen alle krebskranken Personen das defekte „p53“-Gen, nicht aber — mit wenig Ausnahmen — die gesunden Familienmitglieder. Etwa fünf bis zehn Prozent der insgesamt 150.000 Fälle von Brustkrebs, die jährlich in den USA bekannt werden, sind vermutlich erblich bedingt.

Mutiertes Gen aber nicht allein krebsauslösend

Krebsforscher Alfred Knudson vom „Fox Chase Cancer Center“ in Philadelphia untersucht seit Jahren den Zusammenhang zwischen Genen und Krebs. Malkins Entdeckung beurteilt er als bahnbrechenden Fund: „Bisher bekannte genetische Defekte, die Krebs in Erwachsenen auslösen, sind während Lebzeiten angeeignete Mutationen. Hier handelt es sich erstmals um ein vererbbares Gen.“ Die Forscher schränken ein, daß ein mutiertes „p53“-Gen allein noch nicht krebsauslösend wirkt. Dazu bedarf es mehrerer anderer nicht-vererbbarer genetischer Mutationen, die vermutlich durch äußere Einwirkungen wie radioaktive Strahlung, Umweltgifte oder kanzerogene Nahrungsmittelzusätze hervorgerufen werden.

Doch die Suche nach der vererbbaren „p53“-Mutation soll weiter gehen. Auch in Familien, die nicht von „Li-Fraumeni“ betroffen sind, aber beispielsweise eine hohe Rate an Brustkrebs haben, vermuten die Forscher schon lange eine vererbbare Komponente als Ursache. Jetzt wollen sie das Erbgut dieser Frauen auf das mutierte „p53“-Gen untersuchen. Trägerinnen des Gens, so die Forscher, könnten dann mit besonderer Aufmerksamkeit auf erste Krebssymptome achten und präventive Maßnahmen ergreifen. Entdeckungen wie die des vererbbaren Krebsgens sind es, mit denen Watson für sein Genomprojekt wirbt.

Doch selbst Frederick Li, Mitendecker des „Li-Fraumeni“-Syndroms warnt davor, solcherlei Fortschritte unkritisch zu betrachten. Er fordert, daß Mitglieder der „Li- Fraumeni“-Familien, die das mutierte Gen tragen und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken werden, nicht nur ärztlich sondern auch psychisch betreut werden. Außerdem, so Li, müsse sichergestellt werden, daß Versicherungen und Arbeitgeber nicht gegen die Betroffenen diskriminieren. Diese Probleme sind bereits bei der Entdeckung der genetischen Ursache von zystischer Fibrose (erbliche Stoffwechselanamalie) und der Chorea Huntington (allgemeine motorische Unruhe) aufgekommen.

Bedenklicher wird die Enthüllungslust der Genetiker noch, wenn sie tatsächlich den Ursprung psychischer Krankheiten in den Genen nachweisen wollen. Die Entdeckung eines Gens für Alkoholismus wurde im Frühjahr verkündet. Auf der Strecke bleibt dabei die Kritik an einer Gesellschaft, in der soziol-ökonomische Bedingungen, Umweltschäden und womöglich fehlerhafte Ernährung erheblich zu psychischen und körperlichen Störungen beitragen. So gesehen ist Watsons Versprechen, die genetischen „Wurzeln Tausender von Krankheiten“ aufzudecken eher ein Fluch als ein Segen. (siehe 'Science‘, 30.10. 1990)