Sowjetunion — Dämmerung der Perestroika

Der Volksdeputiertenkongreß macht sich überflüssig/ Immer mehr neue Gremien bewältigen immer weniger Probleme/ Gorbatschow wirft sich den Reaktionären in die Arme/ Droht die militärische Okkupation in den baltischen Republiken?  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der „Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR“, geschaffen im Herbst 1988, hat sich mit seiner letzten Sitzungsperiode selbst überflüssig gemacht. Von den über zweitausend Deputierten sind zwei Drittel nicht gewählt, sondern von der KPdSU und mit ihr verquickten „gesellschaftlichen Organisationen“ delegiert. Als Pufferkörperschaft entsandte er die Abgeordneten in den Obersten Sowjet und verhinderte somit deren Direktwahl durch das Volk. Als der Oberste Sowjet dennoch zeitweilig erstaunliche politische Eigenständigkeit an den Tag legte, relativierte die „aggressiv-gehorsame“ Mehrheit im Kongreß der Volksdeputierten, wie sie der Historiker Jurij Afanasjew einmal charakterisiert hat, die entsprechenden Beschlüsse. Der heutige Präsident konnte jeweils dasjenige der beiden Parlamente aus der Tasche ziehen, das ihm für seine Pläne besser zustatten kam.

Mit der letzten Verfassungsänderung, die Gorbatschow mehr Vollmachten brachte, als sie Stalin und Breschnew je besessen haben, ist nun der Oberste Sowjet als parlamentarische Kontrolle der Exekutive fast völlig entmachtet, seiner Neutralisierung bedarf es nicht mehr. Der Präsident regiert jetzt mit einem Sicherheitsrat, dem die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung und die Geheimdienstchefs angehören. Ein oberstes Schiedsgericht soll über Streitfälle in der Wirtschaft entscheiden, eine Kontrollkammer die Aufsicht über den Haushalt führen.

Doch nicht an Vollmachten und richtigen Gremien an der Spitze hat es Gorbatschow bisher gefehlt, sondern an der Fähigkeit, die Erneuerung von ganz unten zu ermutigen und zu ermöglichen, das beherzte Eintreten der kleinen Leute für ihre Belange. Eine winzige Gruppe von Menschen hat es in den letzten Monaten vor den Wänden des Kreml demonstriert, was es heißt, der Rechtlosigkeit der sowjetischen Provinz zu trotzen, die scheinbar undurchlässige Phalanx von käuflichen Parteifunktionären, Betriebschefs, Staatsanwälten und Gewerkschaftsbossen zu durchbrechen und mit dem eigenen Schicksal an die Öffentlichkeit zu treten. Daß das Zeltstädtchen der Erniedrigten und Beleidigten vor dem Hotel Rossija mit dem Ende des Kongresses der Volksdeputierten von Traktoren plattgewalzt wurde, ist ein Menetekel.

Mit dem 53jährigen Gennadij Janajew gelangte nun ein Vertreter jener für Vergünstigungen aller Art offenen Schicht in das Amt des Vizepräsidenten, deren Machtkampf zunehmend bedrohlichere Formen annimmt. Jahrelang leitete Janajew die Freundschaftsgesellschaften der Sowjetunion mit dem Ausland, die als Reisebüro für die herrschende Schicht fungierten. Seinen Aufstieg als Funktionär legte der Bauernsohn in den Jugendorganisationen und in den Gewerkschaften zurück. Dem Politbüro der KPdSU gehört er seit dem Juli an. Der zum Reformflügel zählende Abgeordnete Oleg Bogomolow charakterisierte Janajew als einen „sehr unterwürfigen und sehr konformistischen Repräsentanten des Parteiapparates“. Dieser Vize könnte der Mann sein, den die KPdSU Gorbatschow als Aufpasser an die Seite stellte.

„Wer einen Mann wie Schewardnadse verliert, verliert sein Gesicht“, warnte der weißrussische Schriftsteller Ales Adamowitsch den Präsidenten und machte darauf aufmerksam, welche Gefahr für Gorbatschow selbst in der Tatsache besteht, daß er sich zunehmend mit farblosen Erfüllungsgehilfen umgibt. Auch Chruschtschows Sturz ging die Entfernung der Unterstützer seiner Reformen aus führenden Ämtern voraus. Der neue Unionsrat tritt als Kabinettsersatz nun schon in offener Beliebigkeit an die Stelle des aufgelösten und noch im Frühjahr als der Weisheit letzter Schluß deklarierten Präsidialrates. Die von Gorbatschow um jeden Preis proklamierte Einheit der Nation könnte nur durch eine freiwillige Union der Republiken entstehen, die die Vollmachten ihrer obersten Organe gemeinsam definieren müßten. Der entlassene Innenminister Bakatin, dem es um eine wirklich effektive Sicherheitspolitik im Lande ging, war die Notwendigkeit klar, die Republiken in die Verantwortung einzubeziehen. Deshalb dachte er an die Aufstellung republikanischer Milizen. Die Berufung von Bakatins Nachfolger, des ehemaligen lettischen KGB- Chefs Pugo und dessen Stellvertreters, des Afghanistan-Generals Gromow sowie der Empfang und die Belobigung durch Gorbatschow, die am 10. Dezember dem „Schlächter von Tbilissi“, General Rodionow, zuteil wurden, dessen Truppen durch die Ermordung von 20 friedlichen DemonstrantInnen in der georgischen Hauptstadt im April 1989 den Anstoß zur Sezession dieser Republik gaben — alle diese Maßnahmen lassen sich nicht mehr als Schritte zur Erhaltung des Bürgerfriedens darstellen. Sie dienen nur noch der Rechtfertigung des Präsidenten vor der konservativen Sojus-Fraktion.

Nach der Hetze im sowjetischen Fernsehen und einem Teil der zentralen Presse zu urteilen, ist in den baltischen Staaten schon bald mit einem Putsch der dort stationierten sowjetischen Truppen zu rechnen. Die nun ermöglichte Ausrufung einer direkten Herrschaft des Präsidenten über diese Gebiete würde sie dann gewaltsam „heim ins Reich“ holen. Am Ende des Kongresses erklärte Gorbatschow die in jenen Staaten gezogenen Schlußfolgerungen aus der Veröffentlichung des Hitler-Stalin- Paktes für unzulässig. Die Schließung oder strikte Zensierung der führenden Blätter der Reformpresse, 'Moscow News‘, 'Ogonjok‘ und 'Komsomolskaja Prawda‘, gegen die Gorbatschow selbst in gekränkter Volkstribunenpose zu wettern pflegt, könnte das Szenarium ergänzen. Laut sinnieren schon die Vertreter der Sojus-Fraktion über die Möglichkeiten, die Parlamente der großen Republiken und Großstädte dichtzumachen, die noch einen letzten Hort der Demokratisierung bilden. Intern soll dabei auch das Modell der Entsendung von Statthaltern des Präsidenten in die aufmümpfigen Metropolen diskutiert werden. Schließlich hat KGB-Chef Vladimir Krjutschkow nach klassischer Kalter-Kriegs-Manier die Ursache für die Misere im Lande gefunden, die ferngesteuerte Sabotagetätigkeit der in der Sowjetunion ansässigen Ausländer und Firmenrepräsentanten, eine Anschuldigung, die er allerdings vorläufig wieder zurückziehen mußte.

Auch in der Außenpolitik wird es kälter. Die Prämissen für den Pariser Vertrag über konventionelle Parität sind in der UdSSR nach dem Kongreß nicht mehr vorhanden. Über 75.000 sowjetische Kampfpanzer und Geschütze sollen hinter Schewardnadses Rücken noch schnell aus dem zukünftigen Geltungsbereich des Vertrages hinausgemogelt worden sein.