Lebenslänglich Langeweile

■ Das Elend des (deutsch-)deutschen Krimis und seine Aussichten auf Besserung

Hierzulande zählt der Kriminalroman traditionellerweise zur Schundliteratur, was nicht weiter beunruhigend wäre, zumal das reale Verbrechen reichlich Stoff liefert: tägliche Zerfleischung von Hundebesitzern, symbolisches Töten mit Leuchtraketen, Trinkbrudermorde (taz berichtete). Dummerweise entstand eines Tages im Zuge diverser Weltverbesserungsstrategien und postchristlicher Erlösungspläne die Idee, den Kriminalroman aus der Gosse zu holen, um ihn in ein gutes Buch zu verwandeln.

An diesem Wohltätigkeitsprojekt arbeiten seit einem Vierteljahrhundert ganze Engelsheerscharen (bundes-)deutscher Krimiautoren und -autorinnen. Zu der Zeit hatte es sich endgültig auch in der Bundesrepublik rumgesprochen, daß ein Chandler-Krimi nachgerade anerkannt richtige Literatur sei. Später kam noch Highsmith dazu. Da wollten sie hierzulande auch einen guten Kriminalroman beisteuern. Das Mißverständnis, den Krimilesern das gute Buch nahezubringen, dauert bis heute an.

Bleibt die Frage, ob diese Grundlage der Krimiproduktion auch in Deutschland in den Grenzen von 1990 Bestand haben wird oder ob jetzt — nachdem sich Pack und Pack zueinander gesellt hat — die Zeit für einen soliden deutschen Krimi gekommen ist. Bislang war es ja Essig damit, von drei oder vier Ausnahmen mal abgesehen. Zugegeben: Ich mache mir da wahrscheinlich zuviel Hoffnungen. Die Wirklichkeit sieht ziemlich bitter aus. Um ehrlich zu sein: Ich beziehe meine Hoffnung auch eher aus dem Bereich der Mathematik. Minus multipliziert mit Minus ergibt Plus, also: mieser BRD-Krimi multipliziert mit miesem DDR-Krimi ergibt prima Deutschland-Krimi. Aber es ist ja eben keine Multiplikation, die stattfindet, sondern ein Beitritt, mithin eine Addition, und das heißt mathematisch gedacht: schlechter BRD- Krimi plus schlechter DDR-Krimi macht sauschlechten Deutschland- Krimi.

Einen Vorgeschmack simpler Addition liefert der rororo-Thriller Schau nicht zu, schau nicht her, erschienen kurz vor der Maueröffnung, geschrieben vom bundesdeutschen Oberlangweiler -ky und seinem kongenialen Kollegen aus der DDR, Steffen Mohr. Da hatten sich zwei gesucht und gefunden, um so ziemlich das dämlichste abzuliefern, was mir krimimäßig je unter die Fuchtel gekommen ist. Brav progressiv sind die Täter in der Westberliner Oberklasse angesiedelt, den schneidenden Kontrast zum Wannseemilieu bildet die pittoresk gehaltene Kreuzberger Was-auch-immer- Szene. Der Clou ist übrigens, daß auf DDR-Territorium eine Westleiche liegt. Erschwerend kommt hinzu, daß die Täter BRD-Bürger sind, womit sich ungemein aufregende Fragen aufdrängen: Darf ein DDR- Kommissar im Westen ermitteln, und wenn ja, welches Gericht ist für die Verurteilung zuständig. Kurz und gut: Irgendwie geht es weitläufig um Wohnortprinzip und Tatortprinzip.

Mit dem Fall der Mauer ist der vorher nicht tot zu kriegende folkloristische Berlin-Krimi automatisch dermaßen anachronistisch geworden, daß selbst Heidschnuckenromane vergleichsweise um einiges brisanter daherkommen. Das ist ja überhaupt eine der wenigen begrüßenswerten Folgen des Mauerfalls: Es wird keine Berlinmauerszenekiezidyllekrimis mehr geben, kein »Potsdamer Ableben« von Pieke Biermann ist mehr möglich und auch Richard Heys Kommissarin Katharina Ledermacher kann einpacken. Gerechterweise (ich hasse Ungerechtigkeit) muß ich zugeben, daß nicht nur Berlin in der Bezirksklasse spielt.

A.B.S. und Willy Voss in Hamburg, Jürgen Alberts in Bremen, Christoph Gottwald in Köln, Christine Grän in Bonn bzw. in der Dritten Welt, Thomas C. Breuer in Oberfranken, Felix Huby in Stuttgart, Irene Rodrian in München oder Hansjörg Martin in der gesamtideellen Provinz — sie alle wollen nur eins: dem Leser/der Leserin etwas vermitteln (einige begnügen sich damit, Chandler zu kopieren, das ist noch deprimierender).

Krimi-Schreiben ist nur ein Vehikel, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Und da haben wir schon drei grundlegende Fehler des real existierenden deutschen Krimis: Er arbeitet, er leistet, er klärt auf. Dieser tiefsitzende Vermittlungseifer (Krimi als Transmissionsriemen für Aufklärung) zeugt von ungebrochener Verachtung des Krimis als solchem: Er taugt nur als Mittel zum Zweck. Gäbe es nicht den Willen zur Aufklärung, schriebe auch niemand deutsche Krimis. Die Idee, Krimis als Aufklärungsmittel einzusetzen im Kampf für eine gute und vernünftige Welt, stammt eindeutig aus dem 19. Jahrhundert — Stichwort: Aufklärung durch Satire. Insofern sind die bisherigen deutschen Krimis nichts weiter als harmlose Erbauungsschriften, in denen auch mal ein paar Morde vorkommen. Vermutlich wird der deutsch-deutsche Zusammenschluß an diesem gesinnungsethischen Wesenszug nichts ändern. Im Gegenteil. Das neue Deutschland wird den Freundinnen und Freunden der Aufklärung neuen Auftrieb geben. Sie werden mit mahnenden Worten an die Arbeit gehen und sie werden warnen vor Nationalismus, Rassismus und Faschismus — als wenn sich der deutsche Pöbel jemals davon hätte beeindrucken lassen. Davon schon gar nicht. Von hier aus ist also kein Bruch in der deutschen Kriminalliteratur zu erwarten.

Was speziell den westdeutschen Krimi betrifft, muß ich einräumen, daß er eine niederschmetternde Ausgangslage hatte und weiterhin haben wird. Wer möchte schon über Bullen schreiben, die nichts Schöneres kennen als im gewienerten Golf GTI rumzuheizen. Wer mag sich schon für Verbrecher erwärmen, die eine kriminelle Energie verströmen wie Max Schauzer oder Wim Thoelke. Ich meine, was hat die BRD in 40 Jahren eigentlich an erinnerungswürdigen Verbrechen zustande gebracht. Seien wir ehrlich, da kommt bestenfalls eine Handvoll Fälle zusammen. Honka natürlich, Jürgen Bartsch auch, die Gladbeck-Entführer, Bachmeier mit Abstrichen, die schnörkellose RAF-Dreierserie Buback-Ponto-Schleyer, und dann hat es sich auch schon, höchstens vielleicht noch Barschels Badewannentod als kriminalistische Humoreske.

Womit ich nicht sagen will, es gebe keine kriminelle Energie in Deutschland, sie ist eben nur anders organisiert als zum Beispiel in den USA. Dort glauben sie an die persönliche Freiheit und die Tatkraft des Einzelnen, an den Eroberungsdrang des Unternehmers. In einer Gesellschaft, die durchdrungen ist vom Gedanken der Individualität, ist auch die kriminelle Energie an Einzelne Personen gebunden. Schweinische Bullen, fiese Mörder, üble Gangster, schäbige, halbkriminelle Privatdetektive und selbst noch der besinnungslose Serienkiller sind Ausdruck der Persönlichkeit. In Italien wiederum ist Kriminalität clanmäßig organisiert. Die kriminelle Energie ist nicht so sehr Ausdruck der Persönlichkeit, sondern dient dem Erhalt familiärer Strukturen.

In Deutschland tritt kriminelle Energie (Micky Spillane sei es geklagt) als Ordnungs- und Sauberkeistprinzip auf. Die schlagwütigen deutschen Klein-, Mittel- und Großbürger vermögen es nicht, aus eigenem Antrieb ein Verbrechen zu begehen. Erst mit Verordnungen im Rücken und einem pathologisch reinen Gewissen ausgestattet, können sie so richtig brutal und fies sein und die Sau rauslassen. In Deutschland, also in DDR und BRD, herrscht eine psychische Bedürfnisstruktur, die erst im Stechschritt der SS ihre vollkommene Befriedigung erfährt. Wenn Marcel Montecino in Kalt wie Gold einen Ku-Klux-Klan-Boß zwei deutsche Schäferhunde namens Auschwitz und Treblinka auf den verhaßten Itzig-Bullen hetzen läßt, sagt er mehr über die psychische Disposition eines Faschisten als alle Krimis von Alberts, -ky und Martin zusammen. Mit den Mitteln, wie sie deutschen Krimi-Schriftstellern zur Verfügung stehen, ist der autoritär- paranoide Täter kaum dingfest zu machen. Darum heißen die wahren deutschen Krimi-Autoren vielleicht Walter Benjamin, Wilhelm Reich, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Eugen Kogon, Erich Kuby oder Klaus Theweleit.

Die persönliche, das heißt nicht staatlich organisierte kriminelle Energie ist in Deutschland kaum anzutreffen. In den letzten Monaten gab es zwar einige gegenläufige Tendenzen — gerade in Berlin ist die Kriminalitätsrate nach der Maueröffnung beachtlich gestiegen —, aber es steht zu befürchten, daß es sich nur um ein kurzes Zwischenspiel handelt. Schon bald wird man hier alles im Griff haben, und die kriminelle Energie wird sich wieder dort zeigen, wo sie in Deutschland traditionellerweise hingehört: in den Gesetzen, in den Verordnungen, in den Amtsstuben, im autoritären Charakter. Deutsche Krimi-Autorinnen und Autoren werden zweifellos versuchen, dieser kriminellen Energie auf die Spur zu kommen, aber sie werden sich mit Sicherheit im Aufklärungsgestrüpp verheddern.

Nachdem das, was man bisher in einem Anfall an Großzügigkeit als DDR-Krimi bezeichnet hat, endgültig im themenvermittelnden BRD- Krimi aufgegangen ist, kann die Prognose für das vereinigte Deutschland nur lauten: Es wird einen Stasi- Greuel-Krimi geben, einen Stasi-Offizier-läuft-zum-BND-über-Thriller einen BRD-Konzern-übernimmt- DDR-Fabrik-Wirtschaftskrimi und natürlich einen Rechtsextremismus- Aufklärungs- und Ursachenforschungskrimi. Daneben wird es weiterhin von unsäglichen Philipp Marlowe-Epigonen wimmeln, weil es immer noch genug Schreiber gibt, die Chandler für den größten und einzigen Krimi-Autoren aller Zeit halten. Chandler kommt mit seiner Ritterromantik dem deutschen Verlangen nach sauberer und unbefleckter Wertarbeit auch sehr weit entgegen. Hammet nimmt man zwar zur Kenntnis, aber eine nähere Beschäftigung mit ihm bleibt ausgeschlossen, auch wenn er penetrant mit Chandler in einem Atemzug genannt wird. Hammet ist einfach zu gewalttätig und viel zu zwielichtig. Von Mickey Spillane, James Headley Chase, Loren D. Estleman, Charles Willeford, James Ellroy, Joseph Wambough oder Marcel Montecino ganz zu schweigen.

Kurz und schlecht: Das neue Deutschland wird kaum einen anständigen Krimi hervorbringen. Es bleibt so wie bisher. Eher wird es noch schlimmer. Wenn jetzt alle nach der sanften Metropole rufen und so einem soliden Krimi von vornherein das Wasser abgraben, wenn die Horrorvision einer sanften Metropole tatsächlich Wirklichkeit wird, dann werden sie hierzulande sicherlich auch bald anfangen, sanfte Krimis zu schreiben. Gunske/Dralle