Das große Atemlos

■ Zum Tode von Friedrich Luft, dem populärsten Theaterkritiker Berlins

Bis nächsten Sonntag, gleiche Stelle, gleiche Welle, herzlich auf Wiederhören“ — welcher Theaterinteressierte in und um Berlin kannte ihn nicht, diesen fast aufdringlich-enthusiastischen Theatergänger, dessen hastige Diktion ihm unter anderem den Beinamen „das große Atemlos“ eingetragen hat? Bis vor wenigen Wochen noch drückte Friedrich Luft regelmäßig seinen Parkettsitz in der fünften Reihe links. Seine Meinung über das Gesehene tat er kund in der 'Berliner Morgenpost‘ sowie seit fast 44 Jahren als Stimme der Kritik allsonntäglich im Sender RIAS. In seiner ersten RIAS- Sendung am 7.2.1946 gab er den Auftakt, in dem er sich den sicher erstaunten Hörern zunächst mit folgenden Worten vorstellte: „Luft ist mein Name, Friedrich Luft. Ich bin 1,86 groß, dunkelblond, wiege 122 Pfund, habe Deutsch, Englisch, Geschichte und Kunst studiert, bin geboren im Jahre 1911, bin theaterbesessen und kinofreudig und beziehe die Lebensmittel der Stufe II. Zu allem trage ich neben dem letzten Anzug, den ich aus dem Krieg gerettet habe, eine Hornbrille auf der Nase.“

Luft war ein populistischer Kritiker. Kritik war ihm niemals Selbstzweck, nie kompensatorisches Forum für eine egozentrische Darstellung von Ansichten, die nur am Rande mit dem künstlerischen Ereignis zu tun haben. Luft liebte das Theater und wollte ihm mit seiner Kritik dienen — auch im Verriß. Seine beschreibenden Theaterreportagen wurden im Alter reflexionsloser, unkritischer und auch belangloser. Allzuoft schwelgte er in den letzten Jahren in Selbstzitaten, und immer seltener gelang es ihm, über den bloßen Erlebnisbericht hinauszukommen. Aber auch da noch fesselte zumindest sein Stil; ein Stil, den Marcel Reich-Ranicki 1978 als den einzigen unverwechselbaren seit Kriegsende bezeichnete; ein Stil, in dem sich Berliner Schnoddrigkeit und ein altväterliches Bildungsbürgerdeutsch zu amüsanten, pointierten, bilderreichen, beteiligten und beteiligenden Berichten verbinden — Reportagen live aus dem Parkett.

Noch vor seinem Debut als Rundfunkkritiker begann die Zeitungslaufbahn Friedrich Lufts im Jahr 1945. Seine erste Kritik (über Curt Goetz' Ingeborg in der Tribüne) erschien am 31.8.1945 in der 'Allgemeinen Zeitung‘. Der frischgebackene Kritiker Luft hatte damals bereits einen leidlich bekannten Namen als Feuilletonist: 1939 war ein Feuilletonband mit dem Titel Luftballons erschienen, ein Buch, das sich heute in keiner Berliner Bibliothek mehr findet. Wie er durch den Nationalsozialismus kam, ist nur in groben Zügen bekannt. Angeblich wurde er nach einer Hörsaalschlacht mit NS- Studenten exmatrikuliert und kam so, als gescheiterter Lehrer, nach Ausbruch des Krieges zur Heeresfilmstelle. Verbürgt ist indessen, daß er sich nach 1945 durch eine antifaschistische Haltung auszeichnete. Der in den letzten Jahren geheimhin als gutmütiger Theateronkel geltende Luft hatte in seinen Anfangsjahren auch einen politischen Impetus. In der 'Neuen Zeitung‘ wies er ab 1946 immer wieder auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Faschismus und auf die Gefahr hin, daß der „Nazi im Parkett“ Morgenluft schnuppern oder das „nationale Gifttöpfchen“ wieder zum Kochen gebracht werden könne, wenn eine solche Vergangenheitsbewältigung unterbliebe.

Gegenüber dem Osten Deutschlands war Friedrich Luft bis 1950 liberal eingestellt. Der auf den Bühnen Berlins immer deutlicher werdenden Spannung zwischen Ost und West begegnete er durch eine vorwiegend künstlerische Bewertung theatraler Ereignisse. Mit der Aufführung von Ernst Fischers Drama Der große Verrat im Ostberliner Deutschen Theater im Juli 1950 war für ihn jedoch der „Zeitpunkt gekommen, da zu bedenken ist, ob die Entsendung ernsthafter Theaterkritik in die immer monotoner werdenden Schaustellungen kommunistischer Selbstbefriedigung im Osten unserer Stadt überhaupt noch angängig ist.“ Der Demokrat Luft war zum Kalten Krieger geworden. Er nahm Politik persönlich und reagierte auch mit persönlichen Konsequenzen: jahrelang mied er die Theater Ostberlins. Auch seine Einstellung zu dem bisher bewunderten und gefeierten Bertolt Brecht wandelte sich: Luft prangerte ihn als künstlerisch unzurechnungsfähiges Schoßhündchen der SED an, das sich zum „Vorspann am schweren Wagen einer Diktatur“ mache.

Reine Formexperimente auf dem Theater fanden nie Lufts Zustimmung; neuen Inhalten war er indessen stets aufgeschlossen: Nach Brecht favorisierte er die Stücke Becketts oder auch absurde Dramen, da er in ihnen das Lebensgefühl der Zeit wiedererkannte. Trotz seines hohen Anspruchs an Theater sympathisierte Luft auch immer mit dem Unterhaltungsgenre. Einen gutgemachten Schwank, eine nette Komödie konnte er in den höchsten Tönen preisen, da er jede Sparte nach ihren eigenen Kriterien beurteilte. Genau dies machte ihn letztendlich auch zum „Theatertester“ für die breite Berliner Masse: In einem Boulevardstück wollte er sich „wie Bolle“ amüsieren, neue Dramatik mußte ihre „Nutzanwendung“ und ihren Zeitbezug erweisen und Klassiker sollten heutig und lebendig gespielt werden.

„Der Kritiker hat immer die alte, dumme gute Oberlehrerfrage zu beantworten: ,Was will uns der Dichter hier sagen?‘.“ Und das „alles auf sechzig oder neunzig Zeilen“. Oder eben in 15 Minuten, jeden Sonntag. Mit Friedrich Lufts Stimme ist auch die Stimme der Kritik verstummt. Die RIAS-Sendereihe wurde nach fast 45 Jahren abgesetzt. Wenn die Berliner Nachkriegszeit politisch seit dem Fall der Mauer zu Ende ist, gilt das im Bereich des Theaters seit Friedrich Lufts Tod. Er starb am 24.Dezember. Petra Kohse