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Nur vom Geruch

Die 16jährige Kelly Marcel, selbst sexuell mißbraucht, spielt in dem britischen Film „Turbulence“ ein sexuell mißbrauchtes Mädchen.  ■ Von Roger Willemsen

Wenige Themen beschäftigen die englische Öffentlichkeit im Augenblick so sehr wie der sexuelle Mißbrauch von Kindern, das Thema von Adam Kossoffs Film „Turbulence“, der Ende November auf dem Londoner Filmfestival vorgestellt wurde.

Hauptdarstellerin ist die 16jährige Kelly Marcel, selbst Opfer sexuellen Mißbrauchs und von der Kritik hochgelobt für ihre Rolle der Ruth. Kelly Marcel wohnt bei ihren Eltern, dort führte Roger Willemsen mit ihr ein Gespräch.

Roger Willemsen: Kürzlich sah ich einen amerikanischen Dokumentarfilm über eine sexuell mißbrauchte 14jährige, die sagte: „Trotzdem, trotz allem, was passiert ist, bin ich lieber eine Frau. Frauen kriegen einfach mehr Respekt.“ Macht das Sinn für Dich?

Kelly Marcel: Überhaupt keinen. Ich glaube, das ist zunächst mal ein Haufen Scheiße. Denn es stimmt einfach nicht. Man kann vielleicht sagen, bis zu einem gewissen Maß kann sich jeder selbst Respekt verschaffen und sich nichts gefallen lassen, aber ich denke schon, Männer haben es einfach ein bißchen leichter in dieser Welt.

Wenn Du sagen würdest, heute ist deine Kindheit vorbei, könntest Du beschreiben, was zu ihrem Ende geführt hat?

Em... blickt sich um...em...

Dieses Gespräch erscheint auf Deutsch. Es wird hier keiner lesen. Aber Du kannst die Frage natürlich auch ablehnen.

Nein, nein, ich glaube, ich kann Dir sagen, was es wahr. Ich glaube meine Kindheit ging sehr früh zu Ende. Ich war damals etwa vier. Ich würde es Dir gerne genauer beschreiben (dreht sich um, sieht in den Flur), aber es gibt hier Zuhörer.

Sagen wir so: ich hatte eine gewalttätige Kindheit. Ich war eine vierjährige Erwachsene, gewissermaßen. Verstehst Du, was ich sagen will? Ich glaube es war die Gewalt, die meine Kindheit so sehr, sehr früh an ihr Ende brachte. Diese Gewalt zwang mich, erwachsen zu werden, ich mußte mit etwas fertig werden, mit dem Kinder einfach nicht konfrontiert werden sollten.

Der Film berührte sich also eng mit Deiner eigenen Biographie?

Ja, genau. Deshalb war es entsetzlich schwer für mich, diesen Film zu machen, denn er brachte so viele Erinnerungen ans Tageslicht. Das war in gewisser Hinsicht sicher gut, denn es heilte mich auch. Ich grub all das aus, aber nicht, um es dann wieder zu verbuddeln, sondern um es endlich wegwerfen zu können, und am Ende des Films war ich es los. Auch sehnte ich mich sehr danach, die Verbindung zu meinem Vater heilen zu lassen. Insofern war es eine therapeutische Arbeit.

Du meinst also, auch der Film hat zu Deinem Erwachsenwerden beigetragen?

Ja, auf jeden Fall. Dieser Film ist wohl kaum leichte Kost, er ist traurig. Es klingt wahrscheinlich furchtbar nach Schauspielerinnen-Gerede, aber ich habe mich Ruth sehr sehr nah gefühlt. Ich habe ihr alles, alles gegeben, und ich habe angefangen, sehr viel mehr über andere Menschen nachzudenken. Alle Verhältnisse haben sich seither verändert. Ich gewinne wieder Vertrauen.

Sind Deine Freunde überwiegend Erwachsene?

Ja, Jungen in meinem Alter kotzen mich einfach an. Mein letzter Freund war 29. Ich habe früh gelernt, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Mit Älteren habe ich einfach mehr gemeinsam. Mit Mädchen in meinem Alter geht es besser, aber die reden immer noch: o Gott o Gott... ich meine, ich habe meine Unschuld mit 14 verloren, ich kann mit ihnen nicht so gut reden, sie haben diese Erfahrungen nicht.

Es ist ziemlich ungewöhnlich, mit einer 16jährigen über Sex und Gewalt zu reden, aber schon dem liegt offensichtlich ein falscher Begriff von 'kindlicher Unschuld‘ zugrunde. Kannst Du versuchen zu beschreiben, auf welche Weise Du als Kind mit Sex und Gewalt konfrontiert worden bist?

Ja. Zunächst mal: meine Familie ist sehr offen in diesem Punkt. Keiner hat mir je erzählt, der Storch habe mich gebracht. Ich habe jede Antwort auf jede Frage bekommen.

Keine Schuldgefühle?

Überhaupt keine. Ich hab von Anfang an gefunden: Der Sex ist etwas sehr Angenehmes, meine Eltern haben nicht mal von 'Sex‘ gesprochen, sondern immer von 'sich lieben‘. Als ich meine Unschuld verloren habe, war das sowas Besonderes für mich, ich habe es mit meiner ganzen Familie geteilt. Das war überwältigend, es war einfach so, wie es sein soll. Die Sache selbst war gar nicht so toll, ich meine, ich hab geheult, denn es war sowas Besonderes für mich, aber gleichzeitig hab ich auch gedacht: was soll so Besonderes dran sein? Aber das ganze Drumherum war einfach furchtbar angenehm. Meine Eltern haben sich für mich gefreut.

Würdest Du also sagen, sexueller Mißbrauch ist gewissermaßen 'weniger gefährlich‘ für Menschen, die so aufgewachsen sind wie Du, freizügiger, unbelasteter mit moralischen Komplexen?

Nein. Ich meine, wenn Du so erzogen wirst wie ich und plötzlich dreht sich Dein Vater um und mißbraucht Dich, dann ist das vielleicht sogar noch schlimmer. Du hast ja nichts geahnt, es ist ja nicht so wie bei anderen, bei denen immer schon irgendwas nicht stimmte und die dadurch vielleicht irgendwie präpariert waren, die vielleicht nicht mehr so geschockt werden konnten — so blöd das klingt. Aber bei einem so entsetzlichen Thema kann man gar nicht mehr sagen 'weniger gefährlich‘. Es ist einfach vollkommen zerstörerisch.

Und die Begegnung mit der Gewalt, wo sie nicht sexuell war?

Viel von dem was ich als Kind erfahren habe, ging in die Arbeit für den Film. Kindesmißhandlung und sexueller Mißbrauch sind so verwandt, man kann sie kaum trennen. Beide sind einfach seelenzerstörerisch. Aber was diesen Bereich angeht, so habe ich zusätzlich drei Monate lang Recherchen für den Film unternommen. Ich habe alle diese Erfahrungen in Ruth gesteckt, damit man sieht, wie sich ein „Incest Survivor“ fühlt.

Wie überlebt man diese Erfahrung überhaupt?

Man muß die Schuld loswerden. Man muß sich klarmachen, es ist nicht deine Schuld, aber ist meist auch nicht seine. Es geht oft von Generation zu Generation. Oft ist es einfach niemandes Schuld. Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube einfach, man kann niemandem einen Vorwurf machen.

War das auch die Ansicht der Frauen, die Du während Deiner Recherchen kennenlerntest? Wie waren diese Begegnungen?

Das waren zunächst unheimlich gefühlsbeladene Begegnungen. Ich habe mit einer Frau gesprochen, die noch nie in ihrem Leben darüber gesprochen hatte, sie redete mit mir wirklich zum ersten Mal darüber. Ich war einen Tag mit ihr zusammen, sie hat mir alles erzählt, alles, sie wurde schwanger von ihrem Vater mit 13, sie hatte eine Abtreibung, dann hat sich der Vater von seinen Freunden bezahlen lassen, damit sie auch mal durften, sie standen Schlange. Sie hat sich die Haare abrasiert, die Augenbrauen abrasiert, hat versucht, ihren Vater zu erstechen, sie hat alles durchgemacht. Wir haben geweint und gelacht. Ich glaube, das Schlimmste für eine solche Frau ist Mitleid, aber ich muß gestehen, ich empfand ein furchtbares Mitleid für sie. Ich habe es noch während der Dreharbeiten kaum ausgehalten.

Wie hast Du solche Erfahrungen im Film umgesetzt?

Weißt Du, wenn die Frauen anfangen, über diese Sachen zu reden, gehen sie meist sehr genau ins Detail, sagen genau, was die Männer gemacht haben, wie sie rochen... es macht Dich buchstäblich krank. Es ist so eine grauenhafte Erfahrung. Eine Sache, die alle gemeinsam haben — und ich habe versucht, das umzusetzen — ist, sie haben alle tote Augen, völlig tote Augen. In allen Fällen war es dasselbe, sie mögen alle mittlerweile so glücklich sein, wie sie wollen, ihre Augen sind tot, kein Funken mehr drin, kein Leben. Ihre Augen leer, ausdruckslos. Diese Leere hat mich so bedrückt, ich habe immer wieder versucht, nur das kleinste Leuchten in diese Augen zu bringen, aber es klappte einfach nicht. Diese Leere habe ich dann im Film versucht wiederzugeben. Und einige waren schon fünfzig oder sechzig, und alle denselben Gesichtsausdruck. Es ist erschütternd. Andere ließen sich einfach gehen. Ich wollte immerzu sagen: Gut, es ist furchtbar, aber es passiert auch anderen, Du kannst hier nicht sitzen und bloß lamentieren, mach doch was, es ist Dein Leben, geh raus, riech' den Kaffee, geh raus, tu was... das hat mich so abgestoßen. Ich wollte, daß sie stark sind.

Im Film hast Du eine eher jungenhafte Ausstrahlung.

Ja, es war Adams Idee, Ruth dieses Jungen-Image zu geben, aber in Wirklichkeit gibt es Unmengen von sexuell mißbrauchten Frauen, die sehr, sehr mädchenhaft sind, sehr feminin. Während der Recherchen für den Film sprach ich mit einer Frau, die sexuell mißbraucht worden war. Sie sagte, wenn sie ausgegangen sei, hübsch angezogen, und die Männer hätten keine Notiz von ihr genommen, dann hätte sie das gehaßt, sie wollte trotzdem, sie sollten zumindest Sex mit ihr haben wollen, denn sonst, fühlte sie, etwas war falsch, daran war sie gewöhnt. Ihr Leben lang war sie immer sehr mädchenhaft gewesen, obwohl sie meinte, sie wäre lieber ein Junge gewesen, weil sie es dann einfacher gehabt hätte. Dabei war sie die einzige, die anders war, die etwas aus ihrem Leben gemacht hatte. Sie führt jetzt eine Beratungsstelle für Frauen mit solchen Problemen.

Du meinst also, diese Erfahrung hat ihr Lebensgefühl sogar intensiviert?

Absolut, das glaube ich. Sie hat das benutzt. Den ganzen Haß auf ihren Vater hat sie als Antriebskraft für ihr Leben benutzt. Sie hat alles hineingeworfen, sie ist nicht ertrunken. Sie ist schlicht eine bessere Frau geworden.

Fällt Dir irgendetwas ein, was nicht die Einzelne, sondern die Gesellschaft, die Öffentlichkeit tun könnte oder sollte?

(lacht) Erstmal aufhören, die Leute zu mißbrauchen! Nein, sie sollen sich dem Problem stellen, wach werden. Es muß darüber geredet werden, Prominente müßten darüber reden, aber das sind ja meistens Wichser, entschuldige. Filme müßten darüber gemacht werden, und diese Filme müssen vor neun Uhr abends gezeigt werden, damit auch die Kinder sie sehen können. Sie müßten diese Filme, auch unseren, im Kinderfernsehen zeigen. Denk mal: Jedes Jahr werden es dreihundert Kinder mehr in England, die mißbraucht werden, und in Amerika ist es noch viel schlimmer. Kommunikation ist das einzige, was hilft, aber man wird sie nicht zulassen. Nie. Auch darum mache ich dieses Interview.

Leider können viele sexuell mißbrauchte Frauen offenbar nicht selbst von ihren Erfahrungen sprechen.

Nein, sie sind blockiert und verhalten sich oft irrational. Sie versuchen permanent, sich jemandem mitzuteilen, zu sagen, was passiert ist. Sie glauben auch oft, sie würden sich mitteilen, indem sie bestimmte Sachen machen, z.B. indem sie gewalttätig sind, aber damit wollen sie sagen: Warum verstehst du mich nicht? Und dabei werden sie immer frustrierter, weil offenbar niemand sie verstehen will. Es ist eine symbolische Sprache.

Fühlen sich diese Frauen nun nachher stärker zu Frauen hingezogen?

Nein, immer zu Männern. Das ist sehr, sehr merkwürdig, ich habe sie oft danach gefragt. Es hat lange gedauert, bis ich anfing, es zu verstehen. Vielleicht kann man es auch nicht richtig verstehen, aber viele dieser Frauen fühlten sich trotzdem irgendwie wohl, als sie mißbraucht wurden, weil sie sich begehrt fühlten. Aus vielen wurden Prostituierte. Sogar die eine, von der ich Dir erzählte, sagte, sie habe eine merkwürdige Befriedigung daraus bezogen, von ihrem Vater mißbraucht zu werden. Viele der Frauen fühlen sich sogar geliebt, irgendwie beschützt vielleicht. Das ist das Merkwürdigste. Jede, die ich gefragt habe, hat das bestätigt, und jede von ihnen hat ein fast nymphomanisches Liebesleben. Sogar mich hat das während der Dreharbeiten gepackt. Vier Männer. Das ist ekelhaft, aber ich mußte einfach, Ruth nahm überhand. Ich war wie besessen.

Du verstehst also Deine Art, Ruth zu spielen, als eine Art Kommunikation für alle diese sprachlosen mißbrauchten Frauen. Was hast Du über ihre Art, sich auszudrücken, gelernt?

Du hast z.B. die Körperhaltung im Film gesehen — und es hat mich viel Zeit gekostet, das zu perfektionieren — diese Frauen gehen mit krummen Rücken, sind nach innen gekehrt, sie sitzen mit übereinandergeschlagenen oder verschränkten Beinen, sie sind oft sehr langsam, lethargisch und monoton. Keine von ihnen hatte ein lebendiges Mienenspiel. Wenn ich sie über die Gerüche befragte, haben sie oft fast gekotzt, nur vom Geruch. Eine sagte mir, sie hat später nur mal wieder 'Old Spice‘ bei einem anderen Mann gerochen und sofort kotzen müssen. Immer wenn ich sie zu Gerüchen befragte, habe ich sie genau beobachtet, immer sah ich, wie sie kämpfen mußten, das war immer eine der stärksten Erinnerungen. Und das ist ja auch klar: Wenn sie mißbraucht wurden, haben sie die Augen zugemacht, und alles, was sie mitbekamen, war der Geruch. Der Körper wird ja geradezu taub.

Wenn Du Dein Foto hier ansiehst, kannst Du Dir seine Wirkung sicher vorstellen. Wie reagierst Du auf ungewollte Ansprache oder Berührung?

Ja, das Verführerische verstehe ich. Aber ich begebe mich nie auf die Ebene der Verführer. Ich bestimme über mich. Ich habe keine Schwierigkeiten zu sagen: Fuck off! Ich würde zurückschlagen. Es bleibt beim Nein. Mein Körper ist mein Tempel, und in den werden nur die zugelassen, die ich gebeten habe, die das Privileg haben, sich ihm nähern zu dürfen. Und das ist meine Entscheidung, nicht ihre.

Es gibt im Film eine entscheidende Nacktszene, in der der Vater die Tochter gewaltsam auszieht, um ihr dann ein Kleid anzuziehen. War das nicht eine sehr belastete Sequenz für Dich?

Ja, noch nie hatte ich mich vor der Kamera ausgezogen. Ich mochte meinen Körper nie, ich fand mich zu dünn, mir gefiel alles mögliche nicht. Und dann gab es großen Krach mit meinem Filmvater, denn er wollte, daß ich auch meinen Slip ausziehe und ich fand, das geht zu weit, und dann dachte ich plötzlich: vielleicht spielt er gar nicht nur, vielleicht will er es wirklich. Aber gerade deswegen wurde die Szene dann so spannend, er hat mir die Kleider buchstäblich runtergerissen, er wollte mir wirklich wehtun, und ich hab wirklich fest zurückgetreten.

Wie denkst Du nun, aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen und der Gespräche mit den Opfern, über die Täter?

Ich glaube, es gibt nur Schuld, wo es Verantwortung gibt, und meistens gibt es keine Verantwortung. Es passiert einfach. Alle Gründe führen nur immer weiter zurück auf schreckliche Erfahrungen der Täter, man kommt nicht auf den Grund. Deshalb beschuldigen sich die Opfer so oft selbst. Sie haben sonst niemanden. Ich selbst glaube, beide, Opfer und Täter, brauchen Hilfe. Ich mache mich ganz stark dafür zu sagen: Du kannst niemanden die Schuld geben — außer z.B. wo der Vater sich von den Freunden bezahlen ließ.

Weißt Du, daß man in Amerika chemische Kastration einsetzt gegen Männer, die Frauen mißbraucht haben?

Das ist das Idiotischste, das ich je gehört habe. Das ist völlig übertrieben. Ah, sie machen es interessant, indem sie es unter Strafe stellen. Jetzt kann sich jeder sagen: Mal sehen, ob ich damit durchkomme! Es ist ein Spiel. Die Amerikaner verwandeln alles in ein Spiel. Aber es ist nicht komisch. Das ist ein kranker Witz statt einer Auseinandersetzung. Du löst doch nichts, indem Du jemandem seinen Schwanz abschneidest. Du machst ihn so frustriert, daß er statt dessen was anderes tut, tötet oder so. Sie sollten die Probleme nicht wegwerfen, sondern aufgreifen. Vielleicht können sie dann mit ihrem Leben weitermachen und sogar ihr Glück finden, indem sie auch mal an was Legalem Spaß haben. Chemische Kastration, das ist so bekloppt, wie daß sie den Hühnchen rote Kontaktlinsen geben, damit sie nicht miteinander kämpfen. Rote Kontaktlinsen für Hühnchen!

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