Das Placebo-Imperium: erfolgreich in der Grauzone

Wie ein findiger Arzneivertreiber mit meist nicht auf Wirksamkeit geprüften Medikamenten und unzulässigen Werbeaussagen rund 100 Millionen D-Mark im Jahr umsetzt/ Das Bundesgesundheitsamt kommt mit der Nachprüfung aller Altzulassungen für alle 63.000 freiverkäuflichen Arzneimittel nicht nach  ■ Von Jürgen Lossau

Auf der Flasche mit den Schlankheitstropfen steht: „Kilo-Nit“. Doch der Anblick währt nicht lange. Die Flasche explodiert. Und zwar dort, wo sie eigentlich erst auf ihren Inhalt hin untersucht werden soll: im Frankfurter Büro der Vorsitzenden der Deutschen Arzneimittelkommission. Szenenwechsel: Ein Schlafzimmer in Weiterstadt, keine hundert Kilometer entfernt. In der Nachttischschublade knallt es. Werner Thaler*) schaut sich die Bescherung an: Eine Tube mit „Okadem“- Stutenmilchsalbe ist explodiert. Der Metallmantel zeigt sich markstückgroß zerfressen, wabernde Tubenteile beschmutzen die Schublade.

Medikamente aus der Firmengruppe des Hamburger Arztes Detlef Strathmann geben immer wieder Anlaß zu Beschwerden. Ende Dezember 1988 veröffentlicht die 'Pharmazeutische Zeitung‘ eine Rückrufaktion der Strathmann-Firma Biokirch: „Bei dem Präparat Kilo-Nit, Charge 807502, kommt es bedingt durch die Anwesenheit von Hefen zu einer Gasbildung in dem Präparat.“

Doch auch nach dem Rückzug aus den Regalen der Apotheken und einer neuen Belieferung nehmen die Beschwerden nicht ab. Karsten Albert vom Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker in Eschborn: „Im Januar, Februar und Juni 1989 schickten uns Apotheker Kilo-Nit- Flaschen zur Überprüfung ein. Gasbildung, Gärung, Versprühen des Inhalts beim Öffnen wurden reklamiert. Auch im Juli und September 1990 haben sich Kunden beschwert.“ Professor Volker Dinnendahl, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker, bekommt die Prüfergebnisse des Eschborner Instituts regelmäßig auf den Tisch. Trotz vieler gleichlautender Beschwerden hält er eine erneute Rückrufaktion für ungerechtfertigt: „Nach den Reinheitsanforderungen, die für Fertigarzneimittel gelten, lag kein Qualitätsmangel vor.“

Apotheker Hans Klages*), ein ehemaliger Mitarbeiter Strathmanns, dem die Firma Biokirch gehört, wundert sich keineswegs über die Qualitätsmängel: „Eigentlich müßte man solchen Präparaten reinen Alkohol beimischen. Das schmälert aber den Gewinn. Deshalb werden nur billige Substanzen wie Rotwein zugesetzt. Damit lassen sich jedoch nicht alle Bakterien abtöten.“

Im Februar 1990 ruft die Firma Otto A.H. Wölfer 29 Chargen ihrer Stutenmilchsalbe „Okadem“ zurück. Der zur Strathmann-Gruppe zählende Hersteller hat der Salbe das quecksilberhaltige Konservierungsmittel Thiomersal beigegeben. Doch dadurch wird die Innenlegierung der Metalltuben zerfressen.

Nach dem Rückruf kommt es schon im April zu weiteren Beanstandungen. Dinnendahl: „Der Konservierungsstoff wurde auf m-Kresol umgestellt. Wir erhielten eine Reihe von Meldungen, die sich auf den unangenehmen Geruch und auf Hautunverträglichkeiten bezogen.“ Firmeninsider Hans Klages weiß, warum es ständig zu Problemen kommt: „Viele Apotheken schickten Salben zurück und hatten Anspruch auf Ersatz. Und dieser Ersatz wurde sofort hastig produziert. Versuche mit anderen Konservierungsstoffen waren noch gar nicht ausgereift.“

Auf Druck der Kieler Landesbehörde zur Arzneimittelüberwachung muß die Strathmann-Gruppe auf m-Kresol verzichten. Inzwischen ist „Okadem“ wieder mit dem alten Konservierungsstoff Thiomersal zu haben — in Plastiktuben, die nicht zerfressen werden. „Jeder Fleischsalat wird heute besser überwacht als der gesamte Arzneimittelverkehr“, sagt Hasso Scholz, Professor am Pharmakologischen Institut des Hamburger Unversitätskrankenhauses Eppendorf. Pharmavertreiber wie Strathmann würden oft mit sogenannten Lohnherstellern arbeiten, die aus Kostengründen häufig gewechselt würden. „Dann sind zur Überwachung stets andere Landesbehörden zuständig, die untereinander wenig Kontakt haben.“

Die Präparate der Strathmann- Firmen verkaufen sich nur, solange die Werbetrommel intensiv gerührt wird. „Unbedarfte Kranke kommen dann mit den ausgerissenen Anzeigen in die Apotheken. Sie versprechen sich Heilung durch magische Essenzen wie Stutenmilch, weil alles andere nicht geholfen hat. Die Anzeigen lösen Impulskäufe aus, deshalb müssen die Präparate sofort vorrätig sein“, sagt Hans Klages. Dinnendahl ist nicht verwundert, daß „Okadem“ kaum Stammkunden hat: „Wissenschaftlich ernst zu nehmende Untersuchungen zur Wirksamkeit von Stutenmilchsalben sind mir nicht bekannt.“

Bei den Schlankheitstropfen Kilo- Nit sieht es nicht besser aus. „Rosa Zeiten für Schwergewichtige. Mit Kilo-Nit können Sie wirklich leichter abnehmen“, so die Anzeigen. Die Stifung Warentest kommt allerdings zu folgendem Urteil: „Kilo-Nit ist ein wenig sinnvoll zusammengesetztes Produkt. Eine Wirksamkeit zur Steigerung des Fettabbaus kann nicht erwartet werden“, heißt es im 'test‘- Heft 10/90.

Neben der Kritik am Produkt geraten vor allem die Annoncen für Kilo-Nit ständig ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Strathmann-Gruppe wirbt offenbar vorsätzlich mit Aussagen, die nach dem Heilmittelwerbegesetz verboten sind. In der 'Bild‘- Zeitung hatte die Strathmann-Firma Biokirch inseriert, Hamburger Ärzte hätten Kilo-Nit entwickelt, damit man schlank und fit werde. Am 7. Juli 1989 erließ das Hamburger Landgericht ein Verbot der Biokirch-Behauptungen. Und doch heißt es im Mai 1990 erneut ganz ähnlich in 'Bild‘: „Mit Kilo-Nit können Sie wirklich leichter abnehmen. Hamburger Ärzte haben Kilo-Nit entwickelt.“

Die Dr.-Detlef-Strathmann- Gruppe hat ein ausgeklügeltes System ersonnen, wie sie der Vielzahl verbotener Werbeaussagen und Prozesse Herr werden kann. In Ringordnern werden für jedes Mittel die verbotenen Aussagen und die angedrohten Vertragsstrafen festgehalten. So läßt sich anhand interner Dokumente nachvollziehen, daß Werbeaussagen für die sogenannten Gelenkverschleißkapseln „Eusovit 300“ mindestens 15 Mal untersagt wurden und daß bis März 1990 insgesamt mindestens 230 Werbeverbote gegen die Firmengruppe vorlagen.

Apotheker Klages erinnert sich: „Die verbotenen Werbeaussagen gingen immer gleich in die hauseigene Werbeagentur ,intramed‘. Dort wurden die Anzeigen mit leicht abgewandelten Formulierungen neu zusammengebastelt.“

Mit großem Werbeaufwand präsentiert das Placebo-Imperium seit Anfang 1990 ein neues Schlankheitsmittel: Ananas-Mocken. „Damit kauen Sie sich schlank“, heißt es in den Anzeigen. Tatsächlich bestehen die Kautabletten aber nur aus Molke und Weizenkleie als „Wirkstoffe“. Dieter Temme vom Hamburger Amt für Gesundheits- und Veterinärwesen geht das zu weit: „Der Name eines Präparats darf nicht irreführen.“

Im Juli 1990 erwirkte die Hamburger Behörde einen Rückruf der Ananas-Mocken und eine Umbenennung in Aroma-Mocken. Nach wie vor wird jedoch mit einem Foto der Ananas geworben, um eine schlankmachende Wirkung zu suggerieren. Detlef Strathmann war auf telefonische Anfrage nicht zu einer Stellungnahme zu den Vorwürfen bereits.

Warum solche Pseudomedikamente über Apotheken gehandelt werden und sogar eine Registriernummer des Bundesgesundheitsamtes in Berlin tragen, läßt sich leicht erklären. Ihre „Anerkennung“ basiert auf Altzulassungen. Solche Dokumente gibt es für alle freiverkäuflichen Arzneimittel, die vor 1978 in den Verkehr gebracht wurden. Die Genehmigung erfolgte damals ohne jede Prüfung. Jetzt versucht das Bundesgesundheitsamt, die Nachzulassung aller 63.000 Altarzneimittel zu bewältigen. Und das kann dauern.

*) Namen geändert