Herren fahren dritter Klasse

■ Mit der S-Bahn in den Winterwald, den Baedecker unterm Arm

Die S-Bahn ist jetzt immer ziemlich voll. Viele lassen das Auto stehen, dazu kommt der Berufsverkehr und die Pendler aus Ost und West. Und dann sind da noch die, die mit der S-Bahn verreisen, in die Vorstädte mit der noch unbekannten Architektur, aufs Land zur Tante, in die Märkische Heide. Auch ich will verreisen, raus aus der Stadt in den Wald. Keine Kontrollen, kein Geldumtausch, keine unbegreiflichen Vorschriften belasten mehr die Fahrten in die Umgebung von Berlin.

Am Savignyplatz steige ich ein in den Zug Richtung Erkner. Ich sitze am Fenster und schaue hinaus. Wir fahren durch Großstadtstraßen, vorbei an offenen Höfen, Blick in fremde Fenster, halbgefrorene Wäsche auf dem Balkon. Die S-Bahn fährt an der Rückseite der Stadt entlang, da, wo sie die Arbeitsschürze trägt, vorbei an den Industriegeländen, den Schrottplätzen, den Schmuddelecken. Zwischendurch mal kahle Gärten und immer wieder Vorstadtbahnhöfe.

Ich habe einen Baedecker von 1904 mitgenommen und lese während der Fahrt:

»Die Züge fahren auf der Stadtbahn fast alle fünf Minuten. Es gibt nur II. und III. Klasse. Außer zu Beginn und Schluß der Geschäftsstunden fahren Herren allgemein in der III. Klasse. Sonntagnachmittags ist auch die II. Klasse stark besetzt. In der II. wird nicht geraucht. Man sucht sich seinen Platz selber. Man achte vor dem Einsteigen auf die Fahrtrichtung, die auf Signalarmen angegeben ist, und vor dem Aussteigen auf die Namen der Haltestellen.«

Ich steige an der Endstation Erkner aus und warte auf dem Bahnhofsvorplatz frierend auf den Bus nach Herzfelde. Der fährt durch den Ort an den Häusern in bewährter Plattenbauweise entlang, vorbei an der Villa von Gerhard Hauptmann (heute ein Museum); wir überqueren die Löcknitz und fahren eine lange Strecke durch den Wald. Am Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten, die in den Kämpfen um Berlin 1945 fielen und unser ehrendes Andenken behalten sollten, biegen wir links ab nach Grünau. Grünau gehört mit Fangschleuse und Alt-Buchhorst zur Werlsee-Gemeinde. In Kiesslings Reiseführer Märkische Sommerfrische 1893 lese ich über diese Gegend:

»Die weitgestreute Gemeinde, welche aus mehreren ungemein anmutigen, an der Löcknitz und an einer mit ihr zusammenhängenden Kette von (Werl-, Peetz-, Möllen-)Seen gelegenen Kolonien besteht und ihren Mittelpunkt in der neuen Kirche in Grünheide hat, zählt 1.000 Einwohner und hat seit etwa acht Jahren als Sommerfrische einen bedeutenden Aufschwung genommen.«

Alt-Buchhorst liegt auf einer Landzunge zwischen Peetzsee und Möllensee. Die Straße führt vorbei an einer gemütlichen alten Speisegaststätte und dem »Hotel am Möllensee«, das schon 1904 erwähnt wird, jetzt aber modernisiert mit bequemen Zimmern in astreinem Sechziger-Jahre-Stil plus Fernseher. Und die Speisekarte ist auch recht gut. (Kohlroulade, leicht angebraten.) Der Ort ist klein, die schönen, zum Teil alten Häuser sind gepflegt (man kann sich privat einmieten). Die Gärten reichen oft bis an die Seen mit den dichtbewaldeten Ufern, die an Schlittschuhlaufen und an warme Sommertage mit Baden und Rudern denken lassen. Campingplätze und Datschen liegen versteckt im Wald, die Ferieneinrichtungen und Freizeitzentren der ehemaligen VEBs, PGHs und LPGs sind recht unauffällig um den See herum gekleckert. Grünheide, einen kurzen Spaziergang von Alt-Buchhorst entfernt, ist ebenso hübsch mit seinen Häusern aus der Jahrhundertwende und mit Häusern aus der Neuzeit, bei denen man sich schon fragt, wie wer zu solchem Wohlstand kommt. Ansonsten hat der Ort alles, was eine Gemeinde braucht: Post, Apotheke, Bücherei, Waschstützpunkt, Komplexannahmestelle, natürlich Schule und Kinderkombination und eine kleine Kirche. Havemann wohnte hier in erzwungener Stasi-Abgeschiedenheit.

Es hat sich nicht viel geändert seit der Beschreibung in Kiesslings Reiseführer von 1910:

»Wegen ihrer Lage in prächtigem Hochwalde an einer Seenkette wird sie (die Werlsee-Gemeinde) ... gerne gewählt. Reizende Ausblicke über die Wasserfläche bietet namentlich das freie Seeufer.«

Die Landschaft hat immer noch ihre stille Schönheit. Damals wie heute genießt man die Ruhe und Abgeschiedenheit. Der Wald ist fast menschenleer, Schneematsch dringt durch die Stiefel, feuchte Kälte kriecht in den Mantel. Der Flachmann in der Tasche wärmt Hände, Füße und Seele und läßt Baumschäden und Luftverschmutzung vergessen.

Am Ende eines kalten Winterwochenendes fährt der Bus mit mir wieder nach Erkner und von dort mit der S-Bahn zurück in die Stadt. An den Bahndämmen biegen sich blätterlose Birken im Wind. Die S-Bahn transportiert ein Stück Landschaft mit hinein in die Stadt. Müde vom Ausruhen spüre ich das Rumpeln, Klappern, Quietschen und Schlingern der Bahn. Ich weiß, die Räder müssen enteiert und die Schienen glattgezogen werden. Das kostet viele Millionen. Und dann werde ich es vermissen, dieses typische Berliner S-Bahn-Gefühl. Lene Reckenfelder