Der Solidarność-Thriller

■ Waldemar Krzysteks Spielfilm „Die letzte Fähre“, 23.50 Uhr, ARD

Über viele Jahre mußte Waldemar Krzystek sein Projekt verheimlichen, einen Spielfilm über dramatische Augenblicke in Polens jüngster Geschichte zu drehen: Die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981, nach der das Land fast zwei Jahre von der Außenwelt abgeschnitten wurde.

Die Stimmung in Polen schwankte damals zwischen Resignation, Flucht und unbeirrbarem Untergrundkampf. Über den unmittelbar politische Aspekt hinaus bemüht sich Krzystek mit seinem Film um die Bewahrung moralischer und kultureller Werte. Seine Hauptfigur ist dementsprechend ein junger Lehrer (Krystof Kolberger) aus Danzig. Seine Schüler bilden anfangs gelinde gesagt eine Null-Bock-Fraktion gegen Mareks Lehrauftrag. Einer der Schüler rechnet in einem zynischen Monolog vor, wie lange ein Arbeiter beim derzeitigen Stand der polnischen Wirtschaft arbeiten müsse, um ein westliches Wohlstandsniveau zu erreichen. Das Ergebnis liegt bei ungefähr tausend Jahren. Mit einem müden Lächeln quittiert der Schüler daher die Aufforderung seines Lehrers, sich dennoch mit der Literatur zu beschäftigen: Er legt die Füße hoch, eine realistische Antithese zu Peter Weirs verklärendem Erziehungsfilm Der Club der toten Dichter, wo die lernbegierigen Schüler aus lauter Loyalität zu ihrem Lehrer vor Begeisterung gleich auf die Tische steigen.

Der Film scheint eine noch zynischere Wendung zu nehmen, als sich Marek und sein kulturabstinenter Schüler am Landungssteg jener Ausflugsfähre wiedertreffen, die Tausende von Polen als Fluchtweg nach Hamburg benutzen. Nach dem Motto: „Ist ja schon gut, Herr Lehrer. Wir denken ja alle so“, wünscht ihm der Schüler eine gute Reise. „Bis Montag in der Schule“, preßt der Lehrer jedoch hervor, und wir denken, mein Gott, der zeigt aber auch gar kein Rückgrad.

Weit gefehlt. Marek arbeitet in Wahrheit als Kurier für die verbotene Gewerkschaft und hat sich freiwillig zur vorläufig letzten Kreuzfahrt des Fährschiffes in westliche Häfen gemeldet. Kaum ist das Schiff unterwegs, entwickelt sich inmitten der Passagiere, die zögernd sich gegenseitig ihre Fluchtpläne anvertrauen, ein grimmiges Katz-und- Maus-Spiel rüder Agenten der polnischen Geheimpolizei mit dem Lehrer und seinen Helfern an Bord, die am Herausschmuggeln von Solidarność-Dokumenten gehindert werden sollen. Alte Spannungen zwischen Marek und seiner Exfrau Renata (Agnieszka Kowalska), die als Kontaktperson fungiert, brechen auf. Unversehens ist aus der deprimierenden Sozialreportage ein wilder Solidarność-Thriller geworden. Als die Nachricht durchsickert, daß der Kapitän wegen Verhängung des Ausnahmezustands in Polen den Befehl zur sofortigen Rückkehr nach Danzig erhalten habe, spitzt sich die Lage dramatisch zu.

Nach seiner Rückkehr gilt Marek bei den Schülern als Held. Auf sein Geheiß hin lesen sie nun doch Camus' Die Pest, wo unter anderem geschildert wird, wie der einzelne ein scheinbar unabwendbares Schicksal angesichts eines kollektiven Grauens zu meistern versteht.

Die Filmhandlung greift auf die Kreuzfahrt eines polnischen Fährschiffes zurück, die sich am 13. Dezember 1981 tatsächlich ereignet hat. Nachdem der Film nach seiner Fertigstellung 1989 in Polen uraufgeführt wurde, meldeten sich Passagiere bei Regisseur Krzystek, die sich zur besagten Zeit an Bord befanden und die die realistische Darstellung der gezeigten Ereignisse bestätigten. Manfred Riepe