Spätlese: John Berger "Das Sichtbare & das Verborgene"

Mit diesem Buch ist man sofort befreundet. Es mag an dem Gestus der Bescheidenheit liegen, mit dem John Berger auch in der Sache entschiedene Argumente führt, es hat vermutlich auch etwas mit der Transparenz seiner Sprache zu tun, die den Raum seiner Überlegungen für den Leser begehbar macht. Nichts an seinem Argumentationsstil verpflichtet zur Affirmation, aber alles zur Konzentration. John Berger schreibt kommunikativ. Seine Thesen sind streitbar, aber man hat keine Lust zu streiten. Eher Gefallen daran, einige seiner Gedanken zu wenden, ein paar Vorschläge zu machen, wie man Bilder auch sehen kann. John Berger, englischer Schriftsteller, in den Schweizer Bergen lebend („Sau-Erde“, „Spiel mir ein Lied“), schreibt nämlich auch Aufsätze zur Kunst.

Vermeers Magd und die Grenze der Dialektik

Einige seiner interessantesten Gedanken beziehen sich auf den Zusammenhang von Malerei und Zeit — Zeit im historischen Sinne und einem weiteren, dessen historischen Sinn wir gern vergessen: unserem Begriff von Zeit. Das Gemälde als Objekt, sagt er, entzieht sich der Zeit, hebt sie auf. Im Gegensatz zur Fotografie wird ja kein realer Moment festgehalten, um ihn dem Vergessen zu entziehen und der Geschichte zu übergeben: Vermeers Magd hat wohl nie in diesem Licht unter diesem Fenster der Küche gestanden, und selbst wenn — es war nicht Vermeers Absicht, diesen Bruchteil einer Sekunde festzuhalten. Im Gegenteil hat er auf einen inneren Moment der Identität zugearbeitet — der Identität seines Gemäldes mit dem, was es sein sollte.

Berger macht dieses subjektive Moment gegen eine materialistische Kunstgeschichtsschreibung stark, der er sich dennoch zurechnen möchte — insofern er ihre Grundeinsicht in die Historizität ästhetischer Formen und des ästhetischen Empfindens selbst teilt. Er bemängelt an ihr (und zitiert hier vor allem Nicos Hadjinicolaus) allerdings die Einseitigkeit ihres Vorgehens, ihre Entlarvungsabsicht, ihren permanenten Ideologieverdacht vor allem auf Kosten ihres Gegenstandes. Denn wer Bilder nur liest als materialisierte Formeln gesellschaftlicher Umstände, wer in ihnen lediglich den individualistischen Ausdruck eines kollektiven Unbewußten sieht, vernachlässigt ihre Autonommie nicht nur, sondern muß sie systematisch ignorieren.

Auch die klügste Dialektik zwischen Form, Gehalt und „zugrundliegender“ Wirklichkeit muß an der Eigentümlichkeit von Kunst vorbeigehen — dieser Eigentümlichkeit, die nicht nur darin begründet ist, daß künstlerische Produkte sich auf ihre Vorgeschichte als Gattung beziehen (und dies vielleicht stärker, als Nichtkünstler, sprich Rezipienten, wahrhaben wollen, weil es eine Art von Demütigung bedeutet, nicht der erste Adressat zu sein), sondern auch darin, daß dieses „Produkt“ Bild einer Ästhetik gehorcht, die in Begrifflichkeit nicht aufgelöst werden kann. Die Gefahr marxistischer Kunstbetrachtung liegt darin, ein Bild als einen Aufatz mit anderen Mitteln zu betrachten, mit dessen Argumenten es zu rechten gilt. Es ist kein Wunder, daß bei einem solchen Streit das Bild verlieren muß.

Das Subjektive in kritischer Absicht

Berger betont also das „subjektivistische“ Moment der Kunst nicht in metaphysischer, sondern in kritischer Absicht (und befindet sich hier im Gegensatz zu der ebenso zeitlosen wie aktuell-reaktionären Position George Steiners): er will die aufklärerischen Motive marxistisch inspirierter Ästhetik bewahren, ohne das Objekt der Betrachtung zu vernichten. Seine Abscheu vor jeder Art von Spachkitsch hindert ihn vermutlich daran, jenes subjektive Moment auszuformulieren — was die Schwäche und die Stärke seines Denkens zugleich verdeutlicht: Es auszuformulieren hieße nämlich nicht nur, das Feld der Argumentation zu verlassen, um einen Altar zu errichten (wie Steiner das tut, dessen Ansichten im selben Verlag publiziert wurden), sondern auch, das Intendierte performativ zur Strecke zu bringen. Denn könnte man dieses subjektive Moment begrifflich klar fassen, würde es sich nicht mehr um das handeln, was er meint. Das ist die Krux jener Kunstkritik, der ihr Gegenstand in einem säkularisierten Sinne heilig ist, und aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg, sondern nur mehr oder minder ehrliche Formen des Umgangs damit.

Berger erwähnt dieses Moment der Identität, der Idee des Bildes mit seiner Verwirklichung, um seine Idee der Zeitlosigkeit des Bildes schlechthin zu erläutern: „In gewissem Sinne unterstreicht ein Gedicht, oder die Musik, die gespielt wird, die Gegenwart des Sprechenden oder Spielenden. Während eine visuelle Gestaltung, solange sie nicht als Maske oder Verkleidung benutzt wird, immer auf etwas Abwesendes hinweist. Die Abbildung kommentiert die Abwesenheit dessen, was abgebildet ist. [...] Das statische, visuelle Bild leugnet die Zeit in sich selbst.“ Dieser Gedanke als solcher ist keineswegs neu. Interessant ist seine Verknüpfung — und hier zeigt sich die Lebendigkeit von Bergers Argumentation, der Gedanken unterschiedlicher Provinienz (in diesem Fall der hemeneutischen und der sozialgeschichtlichen) verschränkt — mit der These, daß diese aufgebahrte und aufbewahrte Zeitlosigkeit in verschiedenen Epochen unterschiedlich empfunden und (ideologisch) genutzt worden sei.

Zeitlosigkeit, Macht der Kunst und ihrer Aura

„Bis ins 19.Jahrhundert“, führt Berger an, „stellten sich alle Kosmogonien — sogar die der europäischen Aufklärung — die Zeit auf die eine oder andere Weise als von Zeitlosigkeit umgeben und durchdrungen vor. Diese Zeitlosigkeit bedeutete einen Ort der Zuflucht und der Anziehung. Man betete sie an. Sie war der Bereich, wohin die Toten gingen. Sie war durch Rituale, Geschichte und Moral innig, aber unsichtbar mit der lebendigen Welt verbunden.“

Berger formuliert die Überlegung an dieser Stelle nicht aus, aber legt nahe, daß die Kunst daher das wünschenswerte Material für alle Formen der Macht bildete, deren Aura sich aus der Ewigkeit speiste — so natürlich die Kirche, aber auch der Absolutismus. Es geht ihm eher um den Bruch, den hier die Moderne vollzogen hat (und das ist schade, denn die von ihm angedeutete verzögerteinnere Säkularisierung der Kunst wäre weitere Gedanken wert): „Erst während der letzten hundert Jahre — da die Darwinistische Evolutionslehre allgemein akzeptiert ist — leben die Menschen in einer Zeit, die alles enthält und alles wegfegt und für die es keinen Bereich der Zeitlosigkeit gibt.“

Die Permanenz des Vergänglichen

Die Permanenzerfahrung des Vergänglichen, die für Berger mit dem Darwinismus und der politischen Emanzipation verbunden ist, bedingt zugleich seine Aufwertung: so führt die „Entdeckung des 19.Jahrhunderts, daß die Geschichte der Raum menschlicher Freiheit ist, [...] unvermeidlich dazu, daß Unabwendbare und das Beständige zu unterschätzen.“

Kunst hat für Berger hier keinen Ort: Einerseits wurde sie durch ihre substantielle Eigenschaft der Zeitlosigkeit zu deren Sprache. Andererseits verkörpert sie als Objekt selbst nicht die Ewigkeit und das Pinzipielle (wie die Geometrie, die Berger hier — fälschlich — anführt, denn gerade sie hat sich ja als geschichtlich erwiesen), sondern das Besondere und Vergängliche. „Ihre Vermittlung zwischen dem Bereich des Zeitlosen und dem des Sichtbaren und Tastbaren war umfassender und eindringlicher als die irgendeiner anderen (nicht bildenden, es) Kunst. Daher ihre ikonische Funktion und ihre besondere Macht.“

Aber ihre ikonische Funktion gewinnt Kunst nicht aus dieser Spannung, sondern schlicht aus ihrer Bildhaftigkeit; und es ist wohl die Vergänglichkeit des Materials und jene Eigenschaft der Abwesenheit, der „Leugnung“ von Zeit, die ihre Spannung ausmacht. Berger interessiert nun die Entwicklung dieser Spannung: „In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, als die darwinsche Auffassung von der Zeit sich zunehmend auf allen Gebieten durchsetzte, wurde die Vermittlung zwischen dem Zeitlosen und dem Vergänglichen immer problematischer, immer schwieriger aufrechtzuerhalten.“ Mit wenigen Sätzen charakterisiert er die folgenden Epochen unter dieser Rücksicht: die Impressionisten und Expressionisten arbeiteten daran, das Vergängliche ästhetisch zu machen, für die Pointilisten war es bereits ihr Gegenstand, während die „Futuristen das Statische und Zeitlose ganz aufzuheben trachteten“. Fanatiker der Geometrie wie Mondrian verfolgten das gegenteilige Ziel, die Verbannung jeder Art von Vergänglichkeit.

Träume, der letzte Ort der Zeitlosigkeit

Einen erhellenden Gedanken widmet Berger — hier wieder unterschiedliche Argumentationsformen verknüpfend — den Surrealisten: „Nach dem Krieg machten die Surrealisten die ungelöste Problematik der Zeit zum Dauerthema ihrer Arbeiten; alle surrealistischen Bilder beschwören die Traum-Zeit, denn Träume waren der einzige Bereich des Zeitlosen, der unbeschäftigt geblieben war.“ Ein Satz wie dieser hat die Eigenschaft eines Tores, das weite Gedankenräume eröffnet — Berger winkt gleichsam in eine Richtung, aber er zeigt keinen Pfad. So bleibt an dieser Stelle offen, ob die Erwähnung des Krieges eine rein chronologische oder eine soziale Bedeutung hat. Die zweite führt weiter, denn in einer Epoche, die Lebensläufe zerstört, ist tatsächlich der Traum die einzige Zeit, die vor der Zerstörung der Biographie gerettet werden kann.

Aber Berger beharrt auf dem letztlich wissenschaftstheoretischen Horizont siner Überlegungen zur Zeit, indem er die Argumentation bruchlos zur jüngsten Moderne fortsetzt: „In den letzten vierzig Jahren hat die transatlantische Malerei gezeigt, daß nichts mehr da ist, das vermittelt werden könnte, und daher nicht mehr gemalt werden kann. Das Zeitlose war — wie Rothko so intensiv gezeigt hat — leer. Das Vergängliche ist zur einzigen Zeit-Kategorie geworden.“

Darwinismus, Urknall und Ewigkeit

Bergers Ausgangspunkt ist meiner Ansicht nach nicht korrekt: Der Darwinismus ist vom Urknall überholt worden. Der Darwinismus wollte (auch) zeigen, daß es eine Art Nicht- Zeit nicht geben kann, indem er die Zeit und damit ihr gedachtes Gegenüber banalisierte. Er hat aber das philosophische Problem des Werdens nicht berührt. Das spielt für Bergers Argumentation allerdings keine bedeutsame Rolle: Ihn beschäftigt schließlich nicht der Gehalt der Darwinschen Theorie, sondern ihre ideologische Aufnahme. Wenn es ihm aber darum geht, müßte er auch die Urknall-Theorie, also eine gegenwärtig sanktionierte Auffassung der Zeit, berücksichtigen: Mit dieser wird die Nicht-Zeit wieder eingeführt, befinden wir uns wieder in einem Gefäß von Zeitlichkeit und Raum.

Die Urknalltheorie hat nicht zuletzt deshalb so großes Aufsehen erregt, weil die Paradoxie eines Beginns von Zeit ihr Thema ist. In den Kategorien Bergers gedacht, bedeutet dies, daß unser Bewußtsein von Zeit seit dem 19.Jahrhundert eine Schleife gezogen hat — und dies wiederum müßte Auswirkungen auf unser Sehen und Lesen von Bildern haben. Für Berger aber ist die Entwicklung linear: da wir über keine Idee von Ewigkeit verfügen — eine Kategorie, die, in Abgrenzung zur Vergänglichkeit, dieselbe Funktion wie Zeitlosigkeit oder Nicht-Zeit hat —, ist das „Vergängliche zur einzigen Zeit-Kategorie geworden. Durch Pragmatismus und Konsumdenken banalisiert, wurde es schließlich aus der abstrakten Kunst ausgeschlossen [...] Das Vergängliche, das nicht mehr auf das Zeitlose ausgerichtet ist, wird so trivial und flüchtig wie das Modische.“

Ist das Vergängliche notwendig trivial?

Berger beklagt diese letzte Stufe der Säkularisierung. Ich glaube, damit irrt er zweifach: Zum einen ist der Darwinismus nicht mehr das Paradigma unseres Empfindens von Zeit — wenn nicht ohnehin hier angeführt werden könnte, daß in unserem Bewußtsein von Sterblichkeit (sofern wir nicht an Wiedergeburt oder den Himmel glauben) die Nicht-Zeit eingelassen ist. Vielleicht würde Berger diese Kategorie jedoch ablehnen als eine totale Negativität, die den Verlust der Idee von Ewigkeit nicht wettmachen kann. Aber zum anderen beruht seine Klage darauf, daß — weil die Vergänglichkeit selbst zum totalen Medium des Marktes und der Trivialität wurde — das Vergängliche „schließlich aus der abstrakten Kunst ausgeschlossen oder zum Fetisch einer kurzlebigen Mode — wie in der Pop-art und ihren Ablegern“ wurde.

Ich meine, daß die Entwicklung der Performance — wenn Berger sie sich als eine nicht-triviale Kunst akzeptiert (sein Begriff des Abstrakten scheint ohnehin sehr weit gefaßt) — seine These widerlegt. Das Aufregende an dieser Kunstgattung ist, daß sie Kunst sozusagen auf der Überholspur betreibt: mit einem Material, das Vergänglichkeit selbst ist, nämlich Stimme, Geste, Zeit. Die Tatsache, daß auch schon für Performances Mittel ihrer Musealisierung (Video etc.) entwickelt wurden, wiederlegt ihren Impetus nicht: die Vergänglichkeit selbst zu thematisieren. Was mehr könnte Berger sich wünschen?

John Berger: Das Sichtbare & das Verborgene. Essays

Aus dem Englischen von Kyra Stromberg. Hanser-Verlag, 303 Seiten, geb. 39,80 DM.