Für die KGB-Cleverles ging bisher alles schief

■ Die starken Männer in der Sowjetunion glauben, daß sie mit einer Diktatur den Bürgerkrieg verhindern DOKUMENTATION

Letzten August teilte ich in Mexico City ein Taxi zum Flughafen mit Witali Korotitsch, dem Chefredakteur der Perestroika- Zeitung 'Ogonjok‘ und Parlamentsabgeordneten. Er hat mir dabei eine lustige, kleine Geschichte erzählt. Zu jener Zeit wußte ich noch nicht, was ich davon halten sollte. Heute, nach dem Rücktritt Eduard Schewardnadses, erhält sie eine neue Bedeutung.

Die Geschichte geht so: Im Jahre 1987 hatte die Zeitung von Korotitsch wieder einmal eine scharfe Attacke gegen die konservativen Politbüromitglieder geritten. Deshalb war der Chefredakteur in Gorbatschows Büro zitiert worden. Kaum war Korotitsch eingetreten, schlug auch schon Gorbatschow auf den Schreibtisch und schrie: „Solche Angriffe sind unverantwortlich, sie schwächen mich. Du sabotierst die Perestroika!“ und so weiter. Er schrie ungefähr zehn Minuten in dieser Weise rum. Korotitsch dachte damals: Was ist denn jetzt los? Gorbatschow ist doch eigentlich ein zurückhaltender Typ, auch im Privaten. Warum also dieser Ausbruch? Als die Tirade vorüber war, drängte Alexander Jakowlew, der die ganze Zeit schweigend daneben gestanden hatte, Korotitsch aus dem Raum und flüsterte ihm zu: „Mach dir nichts draus. Das war nur für die Mikrofone. Mach mit der Zeitungsarbeit so weiter, wie du es für richtig hältst.“

Gorbatschow wurde tatsächlich abgehört

In jenem mexikanischen Taxi damals dachte ich, das kann doch nicht wahr sein. Ist der Präsident einer Supermacht derart ein Gefangener des Sicherheitsapparats, daß er vor ihren Wanzen schauspielern muß? Das ist doch unmöglich. Glaube niemals einem Russen, sagte ich zu mir, besonders nicht diesem alten, schlauen Überlebenskünstler Korotitsch. Aber nun, nachdem Eduard Schewardnadse zurückgetreten ist und Jakowlew ausgebootet wurde, fange ich an, mich zu fragen, ob das nicht doch stimmt.

Tatsächlich mag ich Korotitschs Geschichte lieber als vieles, was im Westen über Gorbatschow geschrieben wird, zum Beispiel die Klischees wie das des Davids, der gegen den Goliath der reaktionären Kräfte kämpfte, und das des pragmatischen Politikers, der gegen die bürokratische Mafia und die Stalinisten vorgeht. Jetzt ist es Mode, ihn als den tragischen Gefangenen dieser Mächte zu sehen. Diese beiden Klischees stimmen nicht. Fakt ist, daß die Jungs immer bei ihm reingehört haben und er das ganz genau wußte.

Gorbatschows Aufstieg zur Macht ist undenkbar ohne die Unterstützung des Sicherheitsapparats. Er war Instrument des KGBs für die Säuberung der Gesellschaft und der Partei; und als Leninist versteht er nur einen Imperativ, und der lautet, die Macht zu erhalten, koste es, was es wolle, auch zum Preis einer Diktatur.

Die Perestroika ist ein Kind des KGBs

Gorbatschow stieg zur Macht auf, weil er ein Protegé des KGB-Chefs Andropow war. Es ist durchaus möglich, daß das Programm Gorbatschows im Hauptquartier des KGBs zur Andropow-Zeit seine ersten Ausformungen erhielt. Die Perestroika hatte ihre ersten Anfänge in der Kampagne Andropows gegen die Korruption. In der Breschnew-Ära waren es die Sicherheitsorgane, die auf die Erscheinungen der Korruption, des Nepotismus und der Kriminalität in der Nomenklatura, die die Sowjetunion schwächten, hinwiesen. Das KGB besteht nicht nur aus Bullies, die Demonstranten in Polizeiautos stoßen, auch nicht nur aus den sanften Typen, die mit Abhörgeräten neben den Politikern sitzen. Das KGB rekrutierte die Besten und Intelligentesten aus allen Bereichen, aus den Sprachenschulen, aus den Spezialisten für westliche Länder. Sie waren gebildet genug, zu wissen, wie weit ihr Land in den frühen achtziger Jahren zurückgefallen war.

Wenigstens ein Teil des Sicherheitsapparates wollte die Perestroika. So hören sie Michail Sergejewitsch Gorbatschow nicht notwendigerweise deshalb ab, um ihn dabei zu erwischen, daß er etwas gegen sie selbst sagt. Ganz im Gegenteil, sie sind die einzigen, auf die er zählen kann. Sie hören zu, nur um ihm zu zeigen, daß sie da sind. Und das als sanfte Erinnerung daran, wo die Macht herkommt.

Gorbatschow hat diese Macht niemals in Frage gestellt. Er wollte die alten Kader durch neue ersetzen und die alten Strukturen erneuern, um die Parteiherrschaft zu verlängern.

Ich habe Gorbatschows Buch Perestroika vom Bücherregal genommen. 1987, als es veröffentlicht wurde, glaubte er immer noch an diese Unmöglichkeit: an die soziale Transformation von oben, an eine zweite bolschewistische Revolution ohne Blutvergießen. Noch vor drei Jahren glaubte er, daß die sowjetische Nationalitätenpolitik ein einzigartiges Beispiel dafür ist, ethnische und nationalistische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Noch vor drei Jahren glaubte er, die „ökonomische Rechnungsführung“ würde die Wirtschaft reformieren.

Die russischen Radikalen sagen nun, alles würde anders sein, wenn Gorbatschow tatsächlich das wäre, was der Westen in ihm sieht, ein marktwirtschaftlicher Demokrat. Dann hätte er für die Präsidentschaft kandidieren können und auch die Legitimität gewonnen, die er jetzt nicht hat. Dann hätte er seine Autorität für die Wirtschaftsreform einsetzen können. Aber das waren niemals seine Ziele: Er wollte beides, den Wandel und den Erhalt eines autoritären Regimes.

Schwewardnadses Rücktritt zeigt an, daß es Gorbatschow nur um die Machterhaltung des Apparats geht

Vier Jahre lang haben große Teile des Parteiapparats, des Militärs und des KGBs die Politik mitgetragen, um diese Ziele zu erreichen, weil diese Ziele ihre Autorität nicht bedrohten. Jetzt, im sich entwickelnden Chaos, müssen sie entscheiden: sich entweder dem Sturm zu stellen oder einen härteren Mann zu finden.

Gorbatschow ist aber durch die Ereignisse zu einem Kurs gezwungen worden, den weder er noch sie jemals wollten, und der besteht in der Auflösung des Imperiums und der Partei. Nun gibt es Demonstrationen in den Straßen, selbst auf dem Roten Platz vor Lenins Grab werden Plakate gezeigt, in jeder Republik gibt es Unabhängigkeitsbewegungen. Ein Jahr lang gab es keinerlei Reform, sondern steigendes Chaos und von Panik geprägte Improvisation.

Schewardnadses Rücktritt macht darüber hinaus klar, daß die Krise im Inneren eine Außenpolitik unmöglich macht. Die Krise macht vielleicht sogar eine Innenpolitik unmöglich. Die starken Männer denken nun, daß es an der Zeit ist, strenge Maßnahmen zu ergreifen, vielleicht sogar in die Menge zu schießen. Sie haben aber ihre Truppen zu inspizieren: Werden Achtzehnjährige tatsächlich in die Menge schießen? Die starken Männer glauben, die Diktatur wird den Bürgerkrieg verhindern. Wahrscheinlicher aber ist, daß sie beides bekommen: Diktatur und Bürgerkrieg.

Michael Ignatieff in der englischen Zeitung 'Oberserver‘, 23.12.90