„Arbeiter Hand in Hand zum Generalstreik“

Gestern fand in der Türkei ein eintägiger Generalstreik statt/ Gegen Hungerlöhne und Kriegstreiberei/ Als „Mahnung an die Regierung Özal“ wollen die Gewerkschaften den Streik verstanden wissen/ Streikwelle kann Özal zu Fall bringen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Vor den heruntergekommenen Fabrikhallen der Gießerei Izsal im Industrieviertel Topkapi in Istanbul versperrt uns der Fabrikbesitzer den Weg. „Was sich hier abspielt hat nichts mit dem 3. Januar zu tun. Die Arbeiter hier beginnen einen gesetzlichen Streik im Rahmen der Tarifauseinandersetzung.“ Nur wenige Minuten später wird die Behauptung des Unternehmers widerlegt. Parolen skandierend, ziehen die rund 360 Arbeiter des Betriebes vor das Tor: „Arbeiter Hand in Hand zum Generalstreik“, „Nein zum Krieg“, „Wir haben die Schiffe versenkt, es gibt keine Rückkehr“. Gewerkschaftsfunktionäre halten kurze Reden: „Der Riese, den die Militärdiktatur nach 1980 erschlagen wollte, ist aufgewacht.“ Dann setzt sich der Marsch in Bewegung, vorbei an den anderen Fabriken der Industrieansiedlung, beäugt von Dutzenden Uniformierten und Zivilpolizisten. „Für uns soll es Hungerlöhne geben, und Präsident Özal will uns in den Krieg treiben“, klärt mich einer der Arbeiter über den Sinn der Aktion auf.

In Istanbul fahren keine Linienbusse, keine S-Bahnen und keine Fähren. Der Flugverkehr ist eingestellt, und die Bäckereien backen kein Brot. Die Industriebetriebe liegen still. Strom und Telefonnetz brechen von Zeit zu Zeit zusammen. Über zwei Millionen Arbeiter — die überwältigende Mehrheit der türkischen Arbeiterschaft — folgten dem Aufruf der Gewerkschaftsföderation Türk-Is, am 3. Januar zu streiken. Als eine „Mahnung an die Regierung“ will die Gewerkschaftsföderation den eintägigen Generalstreik verstanden wissen. Solidarität mit den streikenden Kumpels im Bergbau und den Automobilarbeitern ist angekündigt. Über 180.000 Arbeiter sind zur Zeit im Streik, im Metallsektor allein 173 Betriebe mit 85.000 Beschäftigten. Seit Ende November streiken 48.000 Bergarbeiter der staatlichen Kohlewerke. Weitere Streiks sind bereits angekündigt.

Lange Zeit sträubte sich der Vorstand der eher rechten Gewerkschaftsföderation Türk-Is dagegen, den Generalstreik auszurufen. Selbst nach dem Militärputsch 1980 kollaborierte der Dachverband mit den Herrschenden. Doch letztendlich mußten die Funktionäre der Verärgerung der Basis über die niedrigen Löhne und den Kriegskurs der Regierung nachgeben.

Präsident Özal, der autokratisch das Land führt, ist zum Hauptfeind erklärt worden. Die Parole, die die Minenarbeiter in Zonguldak entwickelten, skandieren heute Tausende: „Der Dicke im Präsidentenpalais Cankaya ist ein Arbeiterfeind.“

Um rund 50 Prozent sind die Realeinkommen im vergangenen Jahrzehnt gefallen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Staatspräsident Turgut Özal, einst Chef des allmächtigen Unternehmerverbandes Metall, ging schon immer auf Kosten der Arbeiter. Gerade 400.000 türkische Pfund (umgerechnet 200 DM) ist der Arbeitslohn eines Gießereiarbeiters bei Izsal. Der Brotpreis hat sich allein 1990 um 100 Prozent verteuert.

Mit allen erdenklichen Mitteln hatte die Regierung versucht, den Generalstreik zu verhindern und ihn für illegal zu erklären. Sie erwirkte gegen die Gewerkschaftsföderation eine einstweilige Verfügung vor einem Ankaraer Arbeitsgericht. Staatsminister Cemil Cicek drohte jedem Arbeiter im öffentlichen Sektor, der nicht zur Arbeit erscheine, die fristlose Entlassung an. Die Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichtes in Ankara begannen sofort ein Ermittlungsverfahren gegen die Gewerkschaftsfunktionäre. Mit bis zu drei Monaten Gefängnis wird jeder Propagandist der Arbeitsverweigerung bestraft, hieß es.

Tagelang berieselten staatliches Fernsehen und Funk die Bevölkerung mit einer Antigeneralstreikskampagne. „Ordentliche türkische Arbeiter gehen zur Arbeit.“ Dennoch: In der Türkei lief am 3. Januar nichts mehr. Spöttisch registrierten die Arbeiter den Vorschlag von Ministerpräsident Akbulut, doch noch zur Arbeit zu erscheinen und die Fabrikhöfe zu fegen. Die Arbeitgeber des privaten Sektors hatten sich bereits auf den Generalstreik eingestellt. Er sei nicht für harte Rechtsauslegungen, sagte Arbeitgeberchef Refik Baydur. Statt fristloser Entlassung drohten die Kapitalisten nur mit Abzug des eintägigen Lohnes.

Alle Oppositionsparteien unterstützten den eintägigen Generalstreik. „Sollen Hunderttausende als Verbrecher gelten und Strafen erhalten?“ fragte der Vorsitzende der konservativen „Partei des rechten Weges“, Süleyman Demirel. Für die Sozialdemokraten ist der Generalstreik Ergebnis „der Provokation durch die Regierung“. „Falls das Streikrecht mit Polizeimitteln verhindert wird, wird gleich zu Anfang des Jahres Blut fließen“, mahnte der Vorsitzende der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, Erdal Inönü.

Die Streikwelle kann Staatspräsidenten Özal den Garaus machen. Die Alarmbereitschaft der Polizei wird nicht aufgehoben. Denn morgen wollen 100.000 Bergarbeiter aus Zonguldak mit ihren Familien nach Cankaya, zum Präsidentenpalais özals marschieren. Die Kumpel, die seit Ende November streiken, gehören zu den militantesten Teilen der türkischen Arbeiterbewegung. Der Funke in Zonguldak leitete die Streikwelle ein. Mit Polizei und Militär will die Regierung den Aufmarsch nach Ankara stoppen. „Wir wollen Özals Kopf“, hatte der Vorsitzende der Minenarbeiter, Semsi Denizer, in einem Gespräch mit der taz gesagt. Nun hat er das Jahr 1991 zum Jahr „Adieu von Özal“ erklärt. „Es soll ein Jahr der Freiheit und Demokratie werden.“