Hessen: „Fürstenwahl“ für Landeskinder

Bei der Hessenwahl am 20.Januar soll die Bevölkerung auch über die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung und über die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten abstimmen/ Grüne und Naturschutzverbände dagegen  ■ Von K.-P. Klingelschmitt

Frankfurt (taz) — Ein „sattes Chaos“ prophezeit die Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahlen am 20. Januar, Iris Blaul (34), den Wahlhelferinnen und -helfern in den Wahllokalen der hessischen Kommunen. Die nämlich hätten die Wählerinnen und Wähler vor Ort darüber aufzuklären, daß der Souverän — neben der Abgabe der Erst- und Zweitstimmen für die Landtagswahlen — auch einen Stimmzettel für einen Volksentscheid über die Änderung der Landesverfassung auszufüllen hat. Denn daß am 20. Januar vom hessischen Volk auch darüber entschieden werden wird, ob der Umweltschutz in Hessen Verfassungsrang bekommt und ob die Bürgerinnen und Bürger demnächst ihre Bürgermeister und Ländräte direkt wählen können, das wisse draußen im Lande noch kaum ein Mensch.

Einen „Schnellschuß aus der Hüfte“ nennen die Grünen denn auch die von der CDU/FDP-Landesregierung initiierte Volksabstimmung, die erst Mitte Dezember 1990 im Landtag den parlamentarischen Segen erhalten hatte. Die Regierungsparteien CDU und FDP und die oppositionelle SPD votierten in der Schlußabstimmung für die Vorlagen der Regierung Wallmann (CDU) zur Volksabstimmung. Nur die Grünen, die eigene Entwürfe erarbeitet und im Plenum eingebracht hatten, stimmten konsequent gegen die „Fürstenwahl“ und die „Billigformulierung beim Umweltschutz“, wie Iris Blaul die Verfassungsänderungsinitiativen bezeichnete.

In ihrer ablehnenden Haltung zu den Wallmannschen Vorstößen vor allem beim Naturschutz wissen sich die Grünen einig mit den Natur- und Umweltschutzverbänden des Landes. Die demonstrierten gestern vor dem Landtag gegen die Volksabstimmung, weil in dem knappen Text zur Aufnahme des Naturschutzgedankens in die Landesverfassung wieder einmal der Mensch zum Maß aller Dinge gemacht worden sei und der Naturschutz im Wallmannschen Entwurf noch nicht einmal dem besonderen Schutz des Staates unterstellt werde: „Nein zur ökologischen Wählertäuschung!“ Insgesamt sechs der acht in Hessen anerkannten Naturschutzverbände halten die schlichte Formulierung, daß die „natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter dem Schutz des Staates und der Gemeinden“ stehen, für „weniger als nichts“, wie das der hessische BUND-Vorsitzende Engert stellvertretend auch für die anderen Verbände in Wiesbaden erklärte. So verzichte der Regierungsentwurf auf den Vorrang des Umweltschutzes bei ökonomischen Entscheidungen des Staates und erhebe ihn nur zum Staatsziel und nicht zum einklagbaren, verbindlichen Grundrecht. Ebenso fehle die Verankerung des Verursacherprinzips und die Pflicht zur Vermeidung neuer und zur Beseitigung alter Umweltschäden. Und letztendlich beschränke der Regierungsentwurf den Umweltschutz auf die Nutzungsansprüche des Menschen. Engert: „Wallmann hat den Umweltschutz zum Wahlkampfschlager gemacht und eine beispiellose Schmierenkomödie inszeniert. Auf der Stecke bleiben dabei der Umwelt- und Naturschutz.“

Die in der Landeshauptstadt zum Protest versammelten Sprecher der Verbände warfen der CDU/FDP- Landesregierung auch vor, mit ihrer „nichtssagenden und unverbindlichen Formulierung“ die Wählerinnen und Wähler darüber hinwegtäuschen zu wollen, daß die hessische Umweltpolitik der letzten dreieinhalb Jahre von „Versäumnissen und Rückschritten im Umweltschutz“ geprägt gewesen sei. So habe die liberal-konservative Landesregierung das von SPD und Grünen geächtete Mittel des Sofortvollzugs zum Regelfall gewendet, Rechtspositionen der Naturschutzverbände abgebaut und öffentliche Anhörungen bei umstrittenen Großprojekten — etwa bei der Anhörung zum dritten Giftmüllofen im südhessischen Biebesheim — zur Farce werden lassen. Bei den Umweltbehörden des Landes herrschten zur Zeit „chaotische Zustände“, so daß es permanent zu unverantwortlichen Zeitverzögerungen bei der Realisierung von Umweltschutzprojekten komme. Daß die Landesregierung in dieser verfahrenen Situation die populäre Forderung nach Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung als „Hilfsmittel“ mißbrauche, um die Landtagswahlen zu gewinnen, ist für BUND-Chef Engert eine „Frechheit“.

Das sehen auch die Grünen so, die sich — im Gegensatz zu den Sozialdemokraten — ihre umweltpolitischen Überzeugungen von der Landesregierung nicht für „Kleingeld“ haben abkaufen lassen. Dafür muß es die Ökopartei hinnehmen, im Wahlkampf von der Union als Partei desavouiert zu werden, die gegen die Aufnahme des Umweltschutzes in die Landesverfassung votiert habe. Dabei hatten die Grünen — in Anlehnung an den Entwurf der Umweltschutzverbände — einen eigenen Formulierungsvorschlag eingebracht, der im Kern darauf abzielte, die künftigen Generationen vor umweltpolitischen Fehlentscheidungen der gegenwärtig Regierenden zu schützen. Und damit hätte, so Iris Blaul, etwa die Atompolitik auf der verfassungsrechtlichen Ebene attackiert werden können. Die Grünen stehen jetzt vor der „gewaltigen Aufgabe“ (Blaul), ihren Wählerinnen und Wählern erklären zu müssen, warum die Partei dazu auffordert, am 20. Januar beim Volksentscheid beide Verfassungsänderungsvorschläge abzulehnen. Deshalb kam ihnen die Protestaktion der Umweltschutzverbände vor dem Landtag gerade recht, denn „Wallmann wird ja wohl kaum die Stirn haben zu behaupten, daß die Umweltschutzverbände gegen den Umweltschutz sind“ (Blaul).

Auch bei der von Wallmann inszenierten zweiten Verfassungsänderung, über die bei der Hessenwahl per Volksentscheid abgestimmt werden wird, sind die Grünen einsame Neinsager. CDU/FDP und SPD votierten im Landtag für die Urwahl von Bürgermeistern und Landräten, obleich die Landesregierung auch in der Schlußdebatte Mitte Dezember keinerlei Ausführungsbestimmungen zu dieser Verfassungsänderung vorlegen konnte. So ist völlig offen, ob ein vom Volk gewählter Bürgermeister auch vom Volk wieder abgewählt werden kann. Auch gibt die bestehende hessische Kommunalverfassung (HGO) keinerlei Auskünfte darüber, wie etwa ein Bürgermeister ohne parlamentarische Mehrheit im Rücken eine Stadt oder Gemeinde regieren kann, ohne permanent gegen geltende Bestimmungen der HGO zu verstoßen. Trotz dieser Unklarheiten blockten die Regierungsparteien, die sich auch das populäre Thema der Urwahl noch vor den Landtagswahlen an die Fahnen heften wollten, alle Einwände gegen die Verfassungsänderung im Zeitraffertempo ab. Und deshalb, so Iris Blaul abschließend, sei diese Urwahl in dieser Form nichts anderes als eine „Fürstenwahl“ — inszeniert von einem Landesfürsten, der sich davor fürchte, in Wiesbaden seinen Thron in der Staatskanzlei räumen zu müssen.