Blüm will im Pillenstreit einlenken

■ Der Bonner Gesundheitsminister sagt der Pharmawirtschaft gesetzliche Neuregelung zu/ AOK: Alternativvorschläge der Wirtschaft „interessant“/ Arzneiengpässe auch durch Hamsterkäufe

Berlin (dpa/taz) — Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat den Verbänden von Pharmaindustrie, Großhandel und Apothekern am Donnerstag zugesagt, sich für eine rasche gesetzliche Neuregelung zur Lieferung westlicher Medikamente in die neuen Länder einzusetzen. Für eine solche Neuregelung müßte jedoch in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren der Artikel 33 des Einigungsvertrages geändert werden, der den von der Pharmaindustrie jetzt so vehement bekämpften Preisnachlaß von 55 Prozent vorschreibt. Vor dem Hintergrund scharfer Kritik am Lieferstop westdeutscher Pharmafirmen, appellierten Blüm und der Vorsitzende des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie, von Loeper, bei einer Gesprächsrunde mit den betroffenen Verbänden gestern zugleich an die Hersteller, die Lieferbeschränkungen in die Ex- DDR zurückzunehmen.

Die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung verurteilten das Vorgehen der Pharmaindustrie. Sie versuche, „den Gesetzgeber durch Boykottmaßnahmen zu einer Änderung des Einigungsvertrages“ zu zwingen. Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen, Balzer, nannte das sogenannte Konsensmodell, das Pharmaindustrie, Apothekerverbände und Großhandel gestern als Alternative vorgeschlagen haben, einen „interessanten Ansatz“. Dieses Modell sieht vor, daß die Medikamente auch im Osten zu Westpreisen verkauft werden. Das dadurch bei den Kassen entstehende Defizit von etwa 1,5 Milliarden Mark will die Pharmawirtschaft teilweise durch Rückzahlungen decken. Die Arzneimittelverbände sprechen von Rückerstattungen in Höhe von 900 Millionen DM.

Die Haltung der Pharmafirmen stieß am Donnerstag erneut auf massive Kritik in Bonn. Die CDU-Sozialausschüsse forderten, das Bundeskartellamt müsse entsprechenden Absprachen der Arzneimittelproduzenten schnellstens Einhalt gebieten.

Die durch den Lieferboykott der führenden westdeutschen Unternehmen eintretenden Engpässe in den Apotheken der Ex-DDR sind nach Ansicht von Experten auch auf Hamsterkäufe einiger Kunden zurückzuführen. Es herrsche, so hieß es gestern bei der Berliner Ärztekammer, bei Ärzten wie Patienten auch häufig der irrationale Glaube, die Westpräparate seien besser. Tatsächlich sei die Zubereitung der westlichen Arzneien nur in Einzelfällen der der DDR-Arzneien überlegen. Wirklich problematisch wird der Lieferstop in den neuen Bundesländern derzeit für Diabetiker, die in den letzten Monaten von ihren Ärzten auf eine Behandlung mit Humaninsulin umgestellt wurden. Für sie wäre eine Rückumstellung auf in der DDR produziertes Insulin nach Auskunft des Deutschen Diabetikerverbandes „lebensbedrohlich“.