Nicht alle stehen Gewehr bei Fuß

■ Wehrpflichtige bekommen dieser Tagen den Bescheid für ihre Abberufung in die Türkei

„Wenn du in die Kaserne kommst, kannst du dein Gehirn gleich abgeben“, sagt der 20jährige Mark Schulze. Er ist einer der 1.100 jungen Rekruten, die am Mittwoch auf dem Bremer Hauptbahnhof auf ihren Abtransport in die Kasernen von Goslar, Munster, Hamburg und Essen warten. An die Möglichkeit, daß sie während ihres 12monatigen Kriegsdienstes irgendwann aus der norddeutschen Tiefebene in den Nahen Osten abkommandiert werden könnten, haben die meisten schon einmal gedacht. Aber für Rekrut Ralf Rackow (23) ist die Sache trotzdem klar: „Das Vaterland muß überall verteidigt werden.“ Schon als sechsjähriger habe er Möven „runtergeschossen. Am Golf auf Leute zu schießen, das ist so'n Unterschied ja nicht.“

Doch nicht alle Bundeswehrsoldaten stehen Gewehr bei Fuß, wenn es um ihren Einsatz im Krisengebiet geht. Die Zahl der Soldaten, die aus der Bundeswehr heraus den Kriegsdienst verweigerten, verdoppelte sich gegenüber dem Vorjahr. Bis November waren es über 13.000 mit steigender Tendenz am Jahresende. Die Zahl der Verweigerungen vor der Einberufung zum Wehrdienst ging leicht auf 55.903 zurück. In Oldenburg, wo das Jagdbombergeschwader, das jetzt in die Türkei verlegt werden soll, stationiert ist, nahm die Zahl der Verweigerungen von Soldaten sogar so stark zu, daß die Anerkennungsausschüsse keine persönlichen Befragungen mehr vornehmen, sondern möglichst nach Aktenlage entscheiden.

Auch aus Ostfriesland, von wo sehr viele der Soldaten des Oldenburger Jagdbombergeschwaders stammen, berichten die Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer von vielen Anrufen — vor allem besorgter Mütter und Freundinnen. Mehrere Wehrpflichtige bekamen bereits vor dem Weihnachtsurlaub den Rat, Familienangehörige auf ihren bevorstehenden Einsatz im Nahen Osten vorzubereiten. Ostfriesische Friedensgruppen hatten mit Anzeigen in den Lokalzeitungen zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen. Desertionen hat es nach Informationen der Beratungsstellen jedoch noch nicht gegeben. „Die Leute hoffen noch bis zur letzten Minute, daß sie vielleicht doch nicht in die Türkei geschickt werden, und entscheiden sich höchstens ganz kurzfristig zum Abhauen“, erklärt sich die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle die Situation.

Nicht nur Wehrpflichtige und Berufssoldaten bekommen in diesen Tagen ihre Abberufung in die Türkei. Auch Reservisten werden für den drohenden Golfkrieg mobilisiert. Ein Marinetaucher wurde zu einer „Wehrübung“ in die Türkei einberufen, und mehrere Reservisten berichten, daß ihnen Codewörter zugewiesen worden sind — sicheres Indiz für einen bevorstehenden Einsatz. Ziegenhagen/Asendorpf