VON DER ERSCHLIESSUNG EINER TOURISTISCHEN LANDSCHAFT

■ Autoweekend an den Bodensee

Autoweekend an den Bodensee

VONWERNERTRAPP

„Nicht bloß die großen Vereinigungen, der Allgemeine Deutsche Automobilklub, der Touringklub und so weiter erkundigen sich fortlaufend nach dem Stand der Unternehmung, auch Verkehrs- und Ausflugsunternehmungen, Gesellschaften, große Geschäfte und Kraftwagenreisende fragen immer wieder an, bis zu welchem Zeitpunkt mit der Eröffnung gerechnet werden kann.“

Die mit so viel Ungeduld erwartete Unternehmung, die seit 1925 geplante „Kraftwagenfähre“ zwischen Konstanz und Meersburg, erregte als technisches Abenteuer wie als umstrittener Schritt in die Zukunft nicht nur die Gemüter der Menschen am Bodensee. Als erste große Binnensee-Automobilfähre Europas stieß sie auch über die Region hinaus im In- und Ausland auf Interesse und Bewunderung. „Wer hat denn Nutzen von dem kostspieligen und in seiner Rentabilität ganz unsicheren Unternehmen?“ — fragte ein Leser in der 'Konstanzer Zeitung‘: „Doch nur die kleine kaufkräftige Schicht, die mit dem eigenen Kraftwagen die Sommerreise macht! Das heißt, die Konstanzer Gasthöfe, in denen diese absteigt und die Geschäfte, in denen diese kauft...“

In einer Zeit, in der die moderne Reise- und Autogesellschaft erst vage Konturen anzunehmen begann, sahen viele in der Einrichtung einer Automobilfähre auf dem Bodensee nur ein Luxusprojekt zugunsten einer privilegierten Minderheit, der kaum zwei Prozent der Bevölkerung zählenden Klasse der Automobilbesitzer. Den politischen Interpreten des Fortschritts aber galt sie als weitsichtige Investition zur wirtschaftlichen Erschließung einer Landschaft, die den Anschluß an die moderne Entwicklung fast schon verschlafen hatte.

Vehikel einer späten Modernisierung?

Die Idee kam wohl nicht zufällig von einem Hotelier. Als Julius Augenstein, Besitzer des noblen „Halm“ am Konstanzer Bahnhofsplatz, das Projekt im November 1924 zum ersten Mal in die Diskussion brachte, hatte er beileibe nicht nur altruistische Motive im Sinn. Doch der Gedanke allein, die noch kleine Schar automobiler Touristen mittels einer Fähre von den Nordufern des Sees direkt in die Mauern der Bodensee- Metropole zu lenken, konnte einem Unternehmen, das von Anfang an mit so vielen technischen, wirtschaftlichen und politischen Risiken behaftet war, kaum die nötige Zustimmung sichern. Wenn die nach der Inflation fast illiquide Stadt sich dennoch ein solches Wagnis auflud, so aufgrund einer geradezu als dramatisch empfundenen Situation: Konstanz, vor 1914 wirtschaftlich mit der Schweiz weit enger verflochten denn mit seinem deutschen Umland, hatte durch die lange Grenzsperre infolge des Weltkriegs sein natürliches Hinterland fast völlig verloren. Die mitten durch die Stadt verlaufende Grenze war plötzlich zur trennenden Mauer geworden, hemmte Handel und Verkehr. Nun erst empfand man die fast einzigartige geographische Lage der Stadt an der Spitze einer schmalen, bevölkerungsarmen und rings vom See umschlossenen Halbinsel als bedrückende Enge, ging die Angst um vor regionaler Isolation und wirtschaftlichem Niedergang. Einzig der Bau einer „schwimmenden Brücke“ über den See, so das Kalkül ihrer Befürworter, konnte die Stadt aus dieser strukturellen Klemme befreien, versprach Handel und Gewerbe neue Absatzchancen am jenseitigen Ufer und den Konstanzer Geschäftsleuten einen Ersatz für die ausbleibende Kundschaft aus der Schweiz.

Doch die Stadt, in der sich unter 32.000 Bürgern gerade 416 Besitzer eines Automobils nannten, stieß auch solches Vorhaben auf nicht geringe Skepsis, leuchteten die Segnungen des kommenden automobilen Zeitalters noch ebensowenig ein wie die Notwendigkeit eins automobilen Brückenschlags über den Bodensee. Um diese plausibel zu machen, bemühte man eine rhetorische Figur des Fortschritts, die bis in die Gegenwart hinein an Wirkungsmacht kaum verloren hat: den argumentativen Brückenschlag vom Trauma des eigenen Niedergangs zum Traum von künftiger Größe, Bedeutung und Zentraliät. Das Fortschrittsversprechen, eingewoben in den großen Atem von Geschichte und Zukunft, überließ den Befürwortern so das Verdienst einer Entscheidung von historischer Bedeutung, den Gegnern aber das Stigma, eine Chance von ebensolcher Tragweite versäumt zu haben.

Konstanz, im Mittelalter Sitz des größten europäischen Bistums und Zentrum bedeutender Fernhandelswege, hatte seinen Abstieg zur vernachlässigten Landstadt der Neuzeit nie verwunden. Die Industrialisierung im 19.Jahrhundert brachte zwar einen bescheidenden Aufschwung, doch die Hoffnungen, über die Eisenbahn endlich wieder eine wichtige Rolle im internationalen Verkehr zu gewinnen, hatten sich nicht erfüllt. Mit der Entscheidung für den Bau der Gotthardbahn und gegen die von der Stadt favorisierte Trasse über den Lukmanier führte der internationale Eisenbahnverkehr am Bodensee vorbei, Konstanz selbst blieb ein unbedeutender Sackbahnhof in der Provinz.

Erst das nahende Zeitalter des Automobils schien noch einmal die geradezu historische Chance zu bieten, nachzuholen, was man in der großen Ära der Bahnen versäumt hatte: den Anschluß an eine internationale Schlagader des künftigen Verkehrs, auf der Route Berlin-München-Konstanz-Zürich-Genf-Marseille. Und für die Protagonisten dieses Verkehrs hieß das zugleich: Anschluß an die großen wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit. Nur noch der See stand dieser Vision im Wege, als ein ganz und gar lästiges Hindernis des Verkehrs.

Wettbewerb zwischen Auto und Bahn

Auf der anderen Seite des Sees hatte Konstanz in der badischen Kleinstadt Meersburg einen Partner für das Projekt gefunden, dessen historische Biographie von ganz ähnlichen Abstiegserfahrungen geprägt war. Deutlicher noch als Konstanz hatte Meersburg den Anschluß an die moderne Entwicklung des 19.Jahrhunderts verpaßt. Seine beengte Lage an einem Steilhang machte es für die Industrieansiedlungen denkbar ungeeignet, und die erst um 1900 fertiggestellte „Bodensee-Gürtelbahn“ führte weiträumig an Meersburg vorbei durch das Linzgauer Hinterland. Als mit dem kontinuierlichen Niedergang des Weinbaus auch noch der wichtigste traditionelle Erwerbszweig in die Krise geriet, schien der Abstieg endgültig besiegelt.

Zu Beginn der 20er Jahre jedoch schienen sich gleichsam über Nacht ganz neue Perspektiven zu eröffnen: „Aus norddeutschen Städten, von allen großen Industrieplätzen und aus der Reichshauptstadt richtet sich ein ununterbrochener Strom von Kurgästen an den Bodensee; unser kleines Städtchen ist plötzlich so überlaufen wie früher die berühmtesten Fremdenorte der Schweiz und des Südens“ — die Feststellung des rührigen Bürgermeisters, Dr. Karl Moll, gipfelte denn auch rasch in der Erkenntnis, daß der moderne Tourismus die wohl letzte Chance bot, das Städtchen aus den Irrwegen und Sackgassen seiner Vergangenheit herauszuführen.

In nur 10 Jahren, zwischen 1919 und 1929, brachten die gerade 1800 Einwohner das Kunststück zustande, die Zahl der den Fremden dargebotenen Betten von 130 auf über 700 zu steigern, bereits 1929 zählte man über 250.000 Gäste in der Stadt — ein Strukturwandel, der in Tempo und Radikalität am See wohl ohne Beispiel ist.

„Der Wettbewerb des Kraftwagens mit der Lokomotive, der Landstraße mit dem Schienenweg, bestimmt heute den Verkehr von Stadt zu Stadt, von Land zu Land.“ Völlig verändert haben sich damit, so Moll, auch der Fremdenverkehr, „der in raschem Wechsel und Genuß mit Gesellschaftswagen oder eigenem Gefährt schöne Landgegenden aufsucht, die bisher nicht an bevorzugtem Verkehrsweg lagen, zum großen Nachteil des einst üblichen längeren Kuraufenthalts. Die Kostbarkeit der Zeit bestimmt heute das Geschäft ebenso wie das Vergnügen“. Das eifrige Engagement des Kleinstadtbürgermeisters für eine moderne Kraftwagenfähre über den See war denn auch nur eine logische Konsequenz dieser Erkenntnis. Und mit dem durchaus nicht unberechtigten Argument, daß man am Überlinger See „in Verkehrsfragen um 50-80 Jahre zurückgeblieben sei“, waren auch in Meersburg die letzten Zweifel an der Notwendigkeit des Fortschritts ausgeräumt.

Neue Dimensionen automobiler Beweglichkeit

Für die noch kleine Minderheit der reisenden Kraftwagenbesitzer erschloß die Fähre neue Dimensionen automobiler Beweglichkeit, steigerte sie das Gefühl von Freiheit und Mobilität. Hatte schon vor dem ersten Weltkrieg die Entdeckung des Hochgebirges auf alpinen Pässen und Pisten die Phantasien der motorisierten Touristen beflügelt, so erschien nunmehr die Überquerung des Bodensees per Automobil, gepaart mit dem „Reiz des neuen Verkehrsmittels“, als technisches Faszinosum der Saison, als eindrückliche Erfahrung und Demonstration der Grenzenlosigkeit technischen Fortschritts. Ob es nun der „Bayerische Automobilklub Lindau“ war, der eine „Suserfahrt nach Meersburg“ mit der „erstmaligen Benützung der Fähre“ verband, oder „eine Gruppe von über 70 Wagen aus Zürich, die zum ersten Mal mit der Fähre über den See fahren wollten“ — immer häufiger riefen bald deutsche wie schweizerische Automobilklubs ihre Mitglieder zu Ziel- und Sternfahrten an den See, warben die Klubzeitschriften für ein „Auto-Weekend am Bodensee“: das Erlebnis, mit dem eigenen Gefährt auch ein mehr als vier Kilometer breites Gewässer fast gefahrlos zu überwinden, wurde dabei zur Krönung, ja fast schon zum Ziel der Reise selbst.

Verkehrsfieber und Verkehrswettlauf

Die weitere Entwicklung liest sich wie die gleichsam mikroskopische Chronik der steten Akzeleration automobilen Fortschritts. Schon im ersten vollen Betriebsjahr der Fähre — 1929 — wurden statt der kalkulierten 12.000 über 48.000 Personenwagen und Nutzfahrzeuge befördert, und statt der erwarteten 50.000 hatten über 360.000 Personen die Fähre benutzt! Nach nur zehn Jahren hatte sich die Zahl der beförderten Fahrzeuge erneut mehr als verdoppelt, bereits 1930 mußte ein zweites, 1939 ein drittes Fährschiff angeschafft werden.

Die Zukunft am Bodensee, das signalisierten solche Zuwachsraten, gehörte eindeutig dem Automobil. Zukunftshoffnungen wie Abstiegsängste wurden bald überall vom motorisierten Verkehr bestimmt — wehe dem, der dessen rechtzeitige Förderung verpaßt hatte! Das dem Automobil inhärente Prinzip des individuellen Fortkommens mündete rasch in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf aller Gemeinden am See um möglichst große Anteile am automobilen Verkehr der Zukunft. Hatten das badische Kurstädtchen Überlingen und mit ihm 28 weitere Gemeinden die Fähre noch nach Kräften zu verhindern versucht, weil sie sich durch diese vom Verkehr und damit von künftigem Wohlstand abgeschnitten sahen, so zeigte schon bald eine Reihe weiterer Fährprojekte, daß am Bodensee ein ganz neuer Verkehrslauf begonnen hatte: Kaum war die Autofähre Konstanz- Meersburg eröffnet, da verkehrte zwischen Friedrichshafen und Romanshorn mit dem Fährschiff „Schussen“ bereits ein moderner Trajekthahn, der neben dem auf dieser Strecke schon seit 1869 betriebene Eisenbahntrajekt nun ebenfalls Automobile befördern konnte. Nun wollte man auch am Obersee den großen internationalen Durchgangsverkehr, auf den Konstanz so erpicht war. Als gar zu Beginn der 30er Jahre die Einrichtung weiterer Automobilfähren zwischen Langenargen und Arbon wie zwischen Lindau und Rorschach diskutiert wurde, sprach die „Konstanzer Zeitung“ vom „Fieber des modernen Verkehrs“ und von einem drohendem „Automobilfährenkampf“ am Bodensee.

Eine für das Automobil erschlossene Landschaft

Das sich damals formierende Verkehrsbewußtsein hat bis in die jüngste Zeit hinein Denken und Handeln nicht nur von Politikern und Verkehrsplanern bestimmt. Immer besser hat man in den letzten beiden Jahrzehnten den Bodenseeraum für den automobilen Individualverkehr erschlossen: von Chur das Rheintal hinab nach Rorschach/St. Gallen und Bregenz, von Zürich über Frauenfeld bis nach Kreuzlingen, von Stuttgart über Singen bis nach Konstanz sind neue Autobahnen (weitgehend) fertiggestellt. Von München nach Lindau, von Ulm nach Friedrichshafen und von Basel den Hochrhein entlang nach Singen und von dort über Stockach nach Lindau sind neue Autobahnen oder großzügige Schnellstraßen geplant, im Bau und in Teilen schon fertiggestellt. Wenn hierzulande in den vergangenen Jahren um die Zukunft der Region gerungen wurde, dann stets für, um oder gegen neue Autobahnen.

Die Eisenbahn dagegen hat vergleichsweise selten für Schlagzeilen gesorgt. Bahnmäßig ist der Bodensee auch heute noch internationale Provinz und zumindest auf deutscher Seite um Jahrzehnte hinter der Entwicklung zurückgeblieben: die Hochrheinbahn von Basel nach Singen ist ebensowenig elektrifiziert wie die Strecke am Nordufer des Sees von Radolfzell nach Lindau/ München oder die Strecke Ulm- Friedrichshafen, und das Wagenmaterial, das noch von Dieselloks durch die Gegend gezogen wird, gehört nicht gerade zum feinsten, was die Deutschen Bundesbahn zu bieten hat.

Nachdem sich die Reichsbahn weigere, neue Linien zu bauen, habe man „von der Tatsache auszugeheh, daß der Bodensee eigentlich erst durch das Automobil entdeckt würde“ — so hatte der Konstanzer Bürgermeister und Initiator der Fähre, Fritz Arnold, die Notwendigkeit des automobilen Brückenschlags über den See begründet, vor mehr als sechzig Jahren. Die Folgen der damaligen Weichenstellungen sind heute gerade an der Grenzstadt Konstanz besonders sinnfällig zu studieren. Nicht zuletzt dank der Fähre, die derzeit jährlich mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge über den See verfrachtet, hat sich Konstanz zu dem nach Basel wichtigsten Grenzübergang im deutsch-schweizerischen Fahrzeugverkehr entwickelt. Den mehr als sieben Millionen Autos und Lastwagen aber, die sich jährlich durch das Nadelöhr Konstanz/ Kreuzlingen über die Grenze zwängen, steht im internationalen Eisenbahntransit nur ein einziger Kurswagen auf der Strecke Stuttgart/Chur via Konstanz gegenüber! Und wie zum Beleg dieser Relation hat man den Eisenbahntrajektverkehr zwischen Friedrichshafen und Romanshorn — zumindest eine symbolische Alternative zum automobilen Verkehr über den See — schon seit 1976 eingestellt.

Heute, da gerade am Bodensee der Traum automobiler Freiheit oft genug in Schrittempokolonnen und Staus sein Ende findet, ist von Fortschrittspathos und Verkehrsbegeisterung früherer Jahre nicht mehr viel übrig geblieben. In vielen völlig überlasteten Uferorten wird das jahrzehntelange Streben nach noch mehr Verkehr längst vom lautstarken Ruf nach leistungsfähigen Umgehungsstraßen übertönt. Der massenhafte Ausflugsverkehr, der sich allwochenendlich aus den nahen Agglomerationen an die Gefährdung der Erholungslandschaft. Für viele Anwohner ist er längst zu einer kaum noch erträglichen Plage geworden.

Von den Dimensionen und Folgen, die der damals entfesselte Prozeß einmal annehmen würde, vermochten sich die Zeitgenossen noch kaum eine Vorstellung zu machen — Begriffe wie Stauprognose, Unfalldichte, Emissionsschlange oder Treibhauseffekt waren den Enthusiasten des automobilen Fortschritts noch ebenso fremd wie der Gedanke, daß der Treibstoff der neuen Mobilität einmal zur Neige gehen könnte. Meersburgs Bürgermeister Karl Moll, der so eifrig darauf bedacht war, den automobilen Verkehr und Tourismus der Zukunft in und über sein Städtchen zu leiten, hatte für die Gegner der Autofähre nur den Vergleich mit der Lindauer Schifferzunft übrig, die ein Jahrhundert zuvor „gegen die Personen- und Güterbeförderung durch ein viel bespötteltes und bezweifeltes Dampfschiff Einspruch erhoben“ hatte — für ihn nur ein Beweis mehr, daß der „Fortschritt“ niemals aufzuhalten und schon deshalb immer im Recht war.

Heute hingegen gehört die Infragestellung solcher Selbstverständlichkeiten zum kulturellen Repertoire einer Fremdenstadt: Im Rahmen ihrer Hundertjahrfeier zeigte die Stadt Meersburg eine von Brigitte Gramm konzipierte Ausstellung zum Thema: „Von der Bischofsresidenz zur Fremdenverkehrsstadt“. Dort und im gleichnamigen Katalog könnten nicht nur die Fremden studieren, wie der moderne Tourismus das Leben der Menschen am See auf den Kopf gestellt hat.