Stalins Waisen

Erfahrungen eines „Kindes von Volksfeinden“ in den Waisenhäusern der UdSSR  ■ Von Mischa Nikolajew

Woher ich weiß, in welchem Jahr ich in das Waisenhaus kam? Durch Zufall. Eines Tages saß ich bei Maria Iwanowa im Büro — das war, als sie begonnen hatte, mir über meine Eltern zu erzählen. Wir saßen beide an ihrem Tisch, als sie plötzlich für einen Moment herausgerufen wurde. Ich blieb allein im Raum — mit meiner „persönlichen Akte“ vor mir. Diese „persönliche Akte“ existiert von jedem einzelnen Bürger der Sowjetunion und begleitet ihn durch das gesamte Leben, aber kaum einer hat je die Möglichkeit, ihren Inhalt zu Gesicht zu bekommen. Ich öffnete die Akte und sah einen kleinen Zettel, der an die erste Seite geheftet war. In einer Ecke war ein Stempel: „GPU Moskau“. Auf dem Zettel stand geschrieben: Nikolajew, Mischa, ein vierjähriger Junge, wird zu Ihnen geschickt. Darunter die Unterschrift des GPU- Sekretärs. Der Stempel trug die Jahreszahl 1933. Ich erinnere mich gut, denn es war das erste Dokument, das ich jemals gesehen hatte. Ich entnahm ihm, daß ich 1929 geboren wurde.

Ich habe mich oft gefragt, wie viele Menschen dabei mitgeholfen haben, aus Kindern wie mir Waisen zu machen. Das alles geschah ja hunderttausend- und millionenfach. Wenn man alleine Pokrow nimmt, den Ort, an den ich geschickt wurde und wo ich bis zum Anfang des Krieges blieb: eine kleine Stadt mit fünftausend Einwohnern, regionales Zentrum und nur hundert Kilometer von Moskau entfernt. Und mit nicht weniger als fünf Waisenhäusern. Auf sie wurde man dem Alter entsprechend verteilt. Ich habe in dreien von ihnen gelebt. Nummer eins, drei und vier.

Die Waisenkinder besuchten nur vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr die Schule; die Heime selbst nahmen Kinder vom dritten oder vierten Lebensjahr an auf, und man blieb dort bis zum Alter von vierzehn oder fünfzehn. In meinen drei Waisenhäusern müssen allein etwa vierhundert Kinder gelebt haben. Mit den beiden anderen Häusern kamen wir nicht in Berührung. Nicht einer von uns wurde jemals dahin überstellt, und keiner von dort kam zu uns; die Gebäude waren von hohen Zäunen umgeben; die Kinder gingen nicht in die Schulen der Stadt — hatten sie ihre eigene Schule? — und waren nie in den Straßen zu sehen. Wer waren diese Kinder? Wie viele waren es?... Sechs- oder siebenhundert Waisen in nur einer einzigen Kleinstadt. Wie viele solcher Städte gab es in Rußland?

Ich begriff erst später, daß in allen drei Waisenhäusern, die ich kennengelernt hatte, nur Kinder von Eltern waren, die als Feinde des Volkes verhaftet worden waren. Kein Wort wurde uns gegenüber jemals von unseren Eltern gesprochen, nicht ein einziges Wort. Nie geschah es, daß einer von uns Besuch bekam oder jemals seine Eltern wiederfand. Wir waren alle Opfer der Repressionen; durch nichts anderes, außer Pest oder Krieg, könnten so viele Kinder auf einen Schlag zu Waisen geworden sein. Ich weiß inzwischen, daß selbst enge Verwandte die Kinder von „Volksfeinden“ nicht bei sich aufnehmen durften und daß die Behörden solche Kinder vor ihnen versteckten. Die Vorstellung war, daß sie niemanden kennen und von niemandem gekannt werden sollten, damit sie ihre Vergangenheit schließlich vergaßen.

Wir kannten eine Frau, Nonna hieß sie, deren Eltern verhaftet worden waren, als sie fünf war. Obwohl Verwandte sie aufnehmen wollten, wurde sie in ein Waisenhaus gesteckt. Sie selber war da natürlich noch zu klein, um irgend jemandem eine Nachricht über ihren Aufenthalt zukommen zu lassen, und damit wäre sie tatsächlich beinahe völlig abhanden gekommen. Ihr Onkel jedoch suchte jahrelang in allen Waisenhäusern nach ihr, und schließlich fand er sie, weil man ihr aus irgendeinem Grund keinen neuen Nachnamen gegeben hatte. Man wollte sie jedoch immer noch nicht gehen lassen. Ihr Onkel behielt sie im Auge, schrieb zahllose Petitionen und bekam sie schließlich nach weiteren vier Jahren frei.

Vielleicht war von meinen Verwandten keiner in Freiheit geblieben; und wenn vielleicht doch — wie sollten sie mich finden, ohne Nachnamen oder Vatersnamen? Damit ein Kind sich möglichst an nichts erinnerte, war es die übliche Praxis, den Nachnamen des Kindes zu verändern. Den Vornamen ließ man ihm, denn auch ein sehr kleines Kind hat sich an seinen Vornamen schon gewöhnt, aber der Nachname wurde geändert. Selbst jetzt also, am Ende meines Lebens, weiß ich noch nicht, wessen Namen ich anfangs trug.

Leben im Kollektiv

Die erste bewußte Handlung meines Lebens war es, wegzulaufen — als wäre genau das von nun an mein Schicksal. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich nach Pokrow gebracht wurde, in das Waisenhaus Nummer eins für Kinder im Vorschulalter. Es war im Sommer, und ein Polizist holte mich mit einem Pferdewagen vom Bahnhof ab. Ich erinnere mich an den Polizisten wegen der Pistole, die er im Halfter an seiner Hüfte trug; ein kleiner Junge merkt sich Waffen.

Er brachte mich zum Waisenhaus und gab mich dort zusammen mit meiner Akte bei der diensthabenden Frau ab, ließ sich von ihr etwas unterschreiben und verschwand. Ich fühlte mich sofort völlig verlassen und überwältigt von Kummer. Ich war vier Jahre alt und in meiner ersten staatlichen Anstalt — eine von vielen Anstalten, in denen ich schließlich mehr als die Hälfte meines Lebens zubringen sollte. Ich muß wohl die Freudlosigkeit des Waisenhauses gespürt haben und das jammervolle Leben, das mich dort erwartete; ich muß plötzlich tief in meinem kleinen Herzen begriffen haben, was es heißt, ein Waisenkind zu sein. Später verlor dieses Gefühl seine Schärfe und verschwand mit der Zeit fast vollständig, denn ich war ja nur mit Kindern zusammen, die alle den gleichen Verlust erlitten hatten. An diesem ersten Tag aber war es ein schrecklicher Schmerz.

Später am Abend oder vielleicht auch erst in der Nacht — wir waren jedenfalls schon zu Bett gebracht worden — lief ich fort. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten, nur soviel, daß ich den Weg aus dem Haus heraus und zu einem Loch im Zaun fand. Ich glaube nicht, daß ich es bis zum Bahnhof geschafft habe; am Morgen wurde ich eingefangen und zurückgebracht. Wieder begleitete mich ein Polizist — es war ein anderer — und lieferte mich im Waisenhaus ab. So kam es, daß ich dort blieb und schließlich ein richtiges Waisenkind wurde.

Nach und nach verwandelte ich mich in ein Wolfsjunges, das ständig auf der Hut und jeden Moment bereit ist, seine Zähne in etwas zu schlagen und zuzubeißen. Es war ein allmählicher, aber unaufhaltsamer Prozeß. Was war mit dem Kollektiv? Was mit Freundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität, all diesen Begriffen aus unzähligen an uns gerichteten Reden? Ich weiß nicht, ich habe diese Gefühle nie erlebt. Wir waren eher ein Rudel junger Wölfe, die sich kurzfristig und meist zu üblen Zwecken miteinander verbanden. In den Nachbargärten stehlen zu gehen, darin sahen wir absolut nichts Falsches: Wir waren hungrig und hatten nichts; fast war es so, als hätte uns Gott befohlen, klauen zu gehen. Und uns nicht erwischen zu lassen — denn dann gab es natürlich Ärger. Was wir machten, war mehr eine Art Enteignung, auch wenn wir das Wort natürlich nicht kannten.

Womöglich kann nur jemand, der es selber erlebt hat, begreifen, wie unnatürlich ein kollektives Leben für ein Kind ist. Ich lebte in Gesellschaft von 100 bis 150 Menschen, von denen keiner je den anderen entkam. Wir stießen aneinander: täglich, nächtlich, sommers wie winters, jahrein und jahraus. Ohne Entkommen. Man war immer im Blickfeld der anderen, der Kinder und der Angestellten. Und man wurde ständig zusammengehalten. Zur Schule ging es in Formation, dort erzählten sie einem vier Stunden lang etwas vom Glück und was für ein wunderbares Leben man hatte... Dann kehrte man in Formation zurück ins Waisenhaus und machte Schularbeiten unter den wachenden Augen des Personals.

Aber auch ein kleines Kind braucht Abstand, um über die Welt, in der es lebt, nachdenken zu können. Für uns gab es das nicht. Abgesehen von Winzigkeiten, die man in seltenen Momenten von jemandem in der Küche oder von einer Angestellten zugesteckt bekam, bewegten wir uns, eines wie das andere, in völliger Uniformität. Sowohl im Waisenhaus als auch in der Schule wurde jedes Kind behandelt wie das andere. Wer sich unterschied, wurde gehaßt, sogar verfolgt. Nonna, die ich vorhin schon erwähnte, erzählte einmal, daß sie, als ihre Eltern verhaftet und sie selbst weggebracht wurde, zufällig ein besonders breites und schönes Haarband getragen hatte. Sie trug es noch, als sie im Waisenhaus ankam. Fünf Jahre war sie alt, und dieses Band war ihre einzige Erinnerung an zu Hause. Sie hütete diesen Schatz, lebte in ständigem Schrecken, ihn zu verlieren, und bat die Frauen immer wieder darum, ihr nur mit diesem Band die Haare zusammenzubinden. Die anderen Mädchen haßten sie natürlich dafür. Wahrscheinlich aus Neid, denn auch sie sehnten sich ja nach ihren verlorenen Haarbändern und ihrem Zuhause. Wenn man sie gefragt hätte, warum sie zu dem kleinen Mädchen mit dem Haarband so gemein waren, hätten sie vermutlich keine Antwort gewußt. Erst als das Haarband schließlich doch verlorenging und Nonna wurde wie alle anderen auch, schlossen die Mädchen mit ihr Freundschaft und nahmen sie in ihre Gruppe auf.

Das ist die Grausamkeit des Kollektivs: daß jeder einzelne gezwungen wird, zu sein wie alle anderen, und keinen Augenblick etwas für sich alleine tun darf. Langsam, aber unaufhaltsam wird man davon zermürbt.

Zu der Zeit dachte ich über so etwas natürlich nicht nach, im Gegenteil. Ich war stolz darauf, in einem Land zu leben, das besser war als jedes andere Land der Welt, in einem Land, in dem die Revolution allen Menschen Glück gebracht hatte. Mein Dasein als Mitglied des Kollektivs hielt ich für eine wunderbare Fügung.

Die glücklichsten Kinder der Welt

Zu meiner Zeit gab es viele Waisen, und die Bauern des Landes waren so eingeschüchtert und arm, daß sie kaum in der Lage waren, ihre eigenen Kinder durchzubringen. Der Staat schien auch keinerlei Grund oder Wunsch zu haben, uns an Familien zu vermitteln. Ich glaube, daß sie ein großangelegtes Experiment mit uns machten: Unter welchen Bedingungen erzieht man am besten Menschen der sowjetischen Zukunft? Und Waisenhäuser stellten den idealen Rahmen hierfür dar. Warum? Weil jede Familie, egal wie schrecklich sie ist, ein Kind bewußt oder unbewußt mit ihren Einflüssen prägt und es vor anderen, von außen kommenden Einflüssen abschirmt. Jede Familie erzeugt ihr eigenes Klima, das sich aus der Beziehung der Eltern zueinander ergibt, der Abhängigkeit des Kindes von ihnen und den Gesprächen, die im Hause stattfinden. Ein Kind, das in der Familie aufwächst, erfährt eine sehr viel größere Welt als das Waisenhauskind. Abgeschnitten von allen natürlichen Banden und Gefühlen war man wie ein leeres Blatt Papier, auf das der sozialistische Mensch geschrieben werden konnte. Das Klima, in dem wir lebten, veränderte sich nicht; es war die beständige Kleinwetterlage der Sowjets.

Der Gedanke, der uns in jeder nur denkbaren Variante immer und immer wieder eingeflößt wurde, war, daß die sowjetische Regierung die beste und gerechteste Regierung der Welt ist. Das ist natürlich nichts so schrecklich Besonderes: Keine Regierung beschreibt sich als ungerecht und grausam. Jahrelang also glaubte ich, daß das Sowjetregime das beste war, der sowjetische Mensch der großartigste und wir die glücklichsten Kinder der Welt.

Mit Stolz dachte ich daran, daß auch ich zu einem „gewöhnlichen Sowjetmenschen“ aufwachsen würde, und dieser Gedanke machte mich sehr glücklich. Natürlich. Keiner von uns kannte etwas anderes. Seit unserer frühesten Kindheit hatte man uns immer wieder gesagt, wir seien die glücklichsten Kinder der Welt, nicht ein einziges Kind auf der ganzen Welt führe ein so glückliches Leben wie wir. Und niemand würde so glücklich sein wie wir als Erwachsene, da wir umsorgt wären von der Liebe und Anteilnahme unseres geliebten besten Führers, des Genossen Stalin. Daß wir zur Schule gingen, aßen, gekleidet und beschuht waren, verdankten wir einzig und allein der sowjetischen Regierung und besonders dem Genossen Stalin. Und wir sollten unserem geliebten Führer dankbar dafür sein. „Wir danken dir, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit!“ — das war unser Gebet. Wir standen unter dem Eindruck, wir Waisen — und keiner erklärte uns jemals, warum wir Waisen waren — wären ohne die Sowjetregierung und den großen Stalin völliger Verdammnis anheimgegeben. Wären wir zufällig in irgendeinem anderen Land geboren worden, wären wir augenblicklich gestorben, verhungert und erfroren. Daß wir lebten und glücklich waren, verdankten wir der Tatsache, daß wir in der Sowjetunion geboren worden waren. In kapitalistischen Ländern sterben die Kinder, weil sie schon als Sechs- oder Siebenjährige in den Fabriken arbeiten müssen; man betrachtet sie als billige Arbeitskräfte, und sie arbeiten, bis sie aus Erschöpfung und vor Hunger tot umfallen...

Natürlich glaubten wir das alles. Denn das Waisenhaus war ja unsere erste und einzige Quelle, aus der wir die Welt um uns kennenlernten, zu denken und zu fühlen anfingen — vielmehr: lernten, alles zu glauben, was uns gesagt wurde und ja nie selber zu denken. Unsere Werte entsprachen vollkommen den offiziellen Leitsätzen der Staatsbürokratie.

Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das größte Übel war, daß man uns gleichzeitig lehrte, überall lauere der Feind; unser wunderbares Land sei infiltriert von feindlichen Spionen, die es untergraben und zerstören wollten. Man brachte uns bei, immer auf der Hut zu sein. Feinde, Feinde, Feinde, Feinde..., an den Feinden, gegen die Feinde, über die Feinde... Ein Kind, das in der Familie aufwächst, hat es da leichter: Es weiß, daß Onkel Petja Mammas Bruder ist und ein Freund, daß Tante Masha Papas Schwester ist und eine Freundin und daß seine Großeltern die besten und freundlichsten Menschen der Welt sind. Aber wen hatten wir? Verschiedene Maria Iwanowas und Iwan Petrowitschs, einen nach dem anderen in schneller Abfolge. Wir vertrauten ihnen, natürlich, so wie Kinder Erwachsenen vertrauen, und sie waren es, die uns erklärten, daß es in der Welt von Feinden wimmelt. Das fing sehr früh an, schon in den ersten Tagen im Waisenhaus. Auf diese Weise formte uns die sowjetische Regierung von Kindesbeinen an und machte uns zu Menschen, wie sie sie brauchte. Menschen von unhinterfragbarer Loyalität.

Als es passierte, hatte ich keine Ahnung, was für eine schicksalhafte Rolle dieses Ereignis in meinem Leben noch spielen sollte. Ich merkte ehrlich gestanden kaum, daß es überhaupt ein „Ereignis“ war.

Wie drei Jahre zum Verschwinden gebracht werden

Es war Ende Oktober 1939, längere Zeit nach meiner Rückkehr aus Artek, das Schuljahr hatte bereits wieder begonnen. Ich war inzwischen in der vierten Klasse und nach wie vor im Waisenhaus Nummer drei, als ich plötzlich zusammen mit anderen zum Krankenhaus von Pokrow gebracht wurde.

Einer nach dem anderen wurde in das Sprechzimmer gerufen. Drinnen waren mehrere Ärzte und eine Frau aus dem Waisenhaus. Als ich schließlich an der Reihe war, befahl man mir, mich auszuziehen. Eine Ärztin rief mich zu sich: „Komm her, Mischa!“ Ich ging zu ihr, und sie untersuchte mich. Es war das Übliche: „Mach den Mund auf! Sag A-a-ah!“ Ich tat, was sie wollte. Sie schien etwas zu suchen, fühlte meine Kehle und betastete dann den ganzen Körper, besonders aufmerksam meine Genitalien, daran erinnere ich mich sehr gut. Dann sagte sie nur: „Das ist alles. Du kannst dich wieder anziehen!“

Wir wurden alle auf die gleiche Weise untersucht. Auf dem Rückweg fragte ich die Lehrerin: „Wozu war das? Es ist doch keiner krank...“ „Das war für ein Attest“, sagte sie. Ich hatte keine Ahnung, was das war, und dachte nicht weiter darüber nach; schließlich war es nicht das erste Mal gewesen, daß man uns untersucht hatte. Kurze Zeit später jedoch wurde unsere ganze Gruppe unerwartet dem Waisenhaus Nummer vier überstellt. Gewöhnlich fanden diese Umzüge im Sommer, am Ende des Schuljahres statt, und jetzt war schon später Herbst. Eigentlich hätte ich bis zum Schluß der vierten Klasse, bis Sommer 1940 im Waisenhaus Nummer drei bleiben sollen. Aber wir waren hiermit natürlich hochzufrieden, fast so wie bei der ersten Ausgabe von langen Hosen. Der Umzug in das neue Waisenhaus schien zu bedeuten, daß wir den zurückbleibenden Jungen irgendwie überlegen waren, und das gefiel uns natürlich.

Viele Jahre später erst, als ich die Ereignisse meines Lebens Revue passieren ließ und Verbindungen herstellte, begriff ich, was damals geschehen war. Die ärztliche Untersuchung, der ich damals so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war nichts anderes als die Vorbereitung zu einer „Korrektur“ unseres Alters. Platt gesagt: Die Ärzte hatten meinem Alter drei Jahre hinzugefügt. Von diesem Tag an paßte kein Tag meines Lebens mehr so recht ins Bild. Als ich 1941 das Waisenhaus verließ, sei ich fünfzehn Jahre alt gewesen, und mein Geburtsjahr sei 1926, bestätigen mir die Entlassungsdokumente. Das hieß nichts anders, als daß ich acht Jahre Schule hinter mir hätte haben müssen, wie jeder Fünfzehnjährige. Aber ich war im Frühjahr 1941 erst fünf Jahre zur Schule gegangen. Irgendwo war also eine Diskrepanz von drei Jahren entstanden.

Nach dem Zertifikat, das ich auf Maria Iwanowas Tisch beim Blick in meine „persönliche Akte“ entdeckt hatte, mußte ich 1941 zwölf Jahre alt gewesen sein. Darin stand: Nikolajew, Mischa, vier Jahre alt, und der Stempel war datiert auf 1933. Demnach war ich also 1929 geboren und nicht 1926, wie meine Schulabschluß-Urkunde behauptete. Wieder taucht diese Diskrepanz von drei Jahren auf.

Diese drei Jahre, die ich durch wenige Federstriche von Ärzten und Lehrern älter gemacht worden war, haben mein ganzes Leben verzerrt. Wäre ich drei Jahre länger im Waisenhaus geblieben, hätte ich wirklich acht Jahre die Schule besucht, und der Krieg wäre dann schon fast zu Ende gewesen. Weder hätte ich als Zwölfjähriger schwere körperliche Arbeit leisten müssen, noch wäre ich mit fünfzehn Jahren an die Front geschickt worden. Vielleicht hätte ich sogar zur höheren Schule gehen können.

Ich verstehe, warum der Staat dies ausheckte, und habe keinerlei Zweifel daran, daß es im ganzen Land so geschah: Weder die Waisenhausdirektionen noch die Schulen hätten es aus eigener Initiative gemacht. Die sowjetische Regierung hatte, wie man sagt, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Erstens brauchte sie uns nicht weiter durchzufüttern, und zweitens schuf sie dadurch mehr Arbeitskräfte. Falls es also im ganzen Land so gemacht wurde — und dessen bin ich mir sicher —, dann ging es dabei um nicht unbeträchtliche Zahlen.

Jeder wußte damals, daß es bald Krieg geben würde. Bei uns wurden etwa acht oder zehn Jungen im Krankenhaus untersucht, vielleicht waren es auch zwölf, so genau erinnere ich mich nicht. Wie konnten es diese Ärzte über sich bringen, so viele Kinder in die Welt der Erwachsenen zu schicken? Wie konnten sie sich bloß gegenseitig in die Augen sehen dabei? Solschenizyn schreibt: „Lebt nicht mit der Lüge!“

Wenn das doch nur möglich gewesen wäre. Wenn all diese Menschen unfähig zur Lüge gewesen wären, wenn sie sich geweigert hätten, unser Alter zu „korrigieren“, hätten sie nicht acht oder zwölf Leben ruiniert. Wie viele von diesen Jungen starben im Krieg an Hunger oder aus purer körperlicher Erschöpfung? Wie viele kamen von der Front nicht mehr wieder? Wie viele Leben wurden, wie meines, in den Lagern verwüstet? Ich weiß es nicht...

Aber sie hatten Angst. Angst um sich und ihre Kinder. Angst ist das Motiv jedes einzelnen in unserem Land. Jeder begreift, daß die eigene Freiheit, das eigene Wohlergehen und das seiner Kinder, ja, das Leben selbst in der Hand des Staates ist. Verweigere die Mitarbeit oder zögere auch nur einmal mit der Antwort, und du wirst zu Staub zerrieben. Die Ärztin, die mich untersuchte, hatte wahrscheinlich auch Kinder.

Verrat und Arbeit, Arbeit und Verrat

Ich lernte sehr früh zu arbeiten. Schon im ersten Waisenhaus mußten wir als Fünfjährige in der Küche und im Eßsaal helfen. Wir deckten den Tisch und verteilten das Brot. Wer Küchendienst hatte, mußte Kartoffeln pellen; dafür gab man uns aber keine Messer, und wir zogen mit den Fingern die Schale von den frisch gekochten Kartoffeln. Ich erinnere mich gut, wie ich mir an den Kartoffeln ständig die Finger verbrannte... Im Winter schaufelten wir Schnee, und im Sommer mußten wir die Wege fegen.

Aber das alles war noch wie ein Spiel. Im Waisenhaus Nummer drei blies schon ein anderer Wind: Jeden Tag wurden die Aufgaben verteilt, Küche, Eßsaal, Saubermachen. Einer mußte den Tisch decken, das Brot verteilen, später den Nachtisch auftragen und wieder abdecken. Ein zweiter mußte die Kartoffeln waschen und später pellen, ein dritter den Fußboden wischen. Und alle zehn Tage — am Badetag — mußten wir unsere Matratzen zum Lüften in den Hof bringen. Dann mußten die Fußböden gewischt und im Sommer auch die Fenster geputzt werden. Jungen wie Mädchen wurden zu diesen Aufgaben herangezogen.

Ab der vierten Klasse mußten wir zusammen mit dem diensthabenden Lehrer Nachtwache machen. Dabei saß man auf dem Flur an einem Tisch, vor einem lag das Dienstheft. Alles, was in der Nacht geschah, mußte darin notiert werden: Wer nicht geschlafen hatte, wer Unsinn machte und so weiter. Morgens händigte man das Heft dem Pionierleiter aus, und jeder, der sich nachts danebenbenommen hatte, erhielt beim Morgenappell eine öffentliche Rüge. Der Nachtdienst war in Zweistundenschichten aufgeteilt; einer übergab an den anderen. Und morgens hetzte man im Halbschlaf zur Schule.

Ich glaube, daß dieses System ein wichtiges Prinzip der sowjetischen Pädagogik illustriert; heute kann ich dich verraten, aber morgen bist du an der Reihe.

Im Waisenhaus Nummer vier war die Arbeit noch härter. Neben der Arbeit im Gemüsegarten, an der sich jeder zu beteiligen hatte, gab es einen hauseigenen Websaal. Pokrow liegt nicht weit vom Textilzentrum Orekhowo-Sujewo entfernt, und die Waisenhäuser waren mit den dortigen Fabriken irgendwie verbunden. Vielleicht waren sie unsere Sponsoren oder Paten. Wir begannen unser Arbeitsleben daher als Textilarbeiter und webten auf den altertümlichsten Handwebrahmen Jacken und Strümpfe. Ich sehe sie noch vor mir: oben und unten jeweils ein Griff und eine Nadelreihe dazu. Die Griffe mußten auf eine bestimmte Weise bewegt werden, und am Ende erhielt man eine Jacke. Man zeigte uns, wie der Rahmen bedient wurde, die Fäden vorbereitet und in die Nadeln eingefädelt. Wir verarbeiteten ausschließlich Baumwolle. Für Strümpfe gab es zwei Rundrahmen. Wenn man mir heute so ein Ding vor die Nase stellt, würde ich bestimmt sofort wieder losweben können — allerdings bezweifle ich, daß irgendwo auf der Welt solche antiken Stücke noch existieren.

Hier ging es um richtige Arbeit. Jedes Waisenkind hatte täglich vier Stunden im Websaal zu arbeiten. Wer morgens in der Schule war, arbeitete nachmittags, und wer am Nachmittag in zweiter Schicht Unterricht hatte, mußte vormittags weben. Außerdem hatten wir natürlich unser Soll: Wenn ich mich richtig erinnere, waren das zwei Jacken in vier Stunden. Wer sein Soll nicht erfüllte, wurde bestraft.

So also fing das Arbeitsleben für mich schon mit elf Jahren an. Man kann sich vorstellen, daß das Waisenhaus durch unsere Arbeit Geld einnahm, aber wir wußten davon nichts und dachten nicht einmal darüber nach. Uns erschien es normal: Wir fühlten uns der Regierung tief verpflichtet und kamen daher überhaupt nicht auf den Gedanken, daß uns Lohn zustehen könnte. Ich hatte damals nicht die geringsten Zweifel daran, daß ich und alles, was ich jemals tun würde, mit Haut und Haaren dem Vaterland gehörte.

Übrigens glaube ich, daß es bei unserer Arbeit nicht um den finanziellen Gewinn ging, den das Waisenhaus eventuell daraus schlug. Vielmehr ging es darum, uns von frühestem Alter an an körperliche Arbeit zu gewöhnen. Man zog uns auf wie Uhrwerke, auf daß wir endlose Jahre und klaglos in der Tretmühle aushalten würden. Was Freude an der Arbeit oder gar Liebe zu ihr betrifft: Ich kann nur für mich sprechen, aber ich habe nichts anderes als Flüche für sie übrig gehabt. Erstens war es eine schwere körperliche Anstrengung, für die ich viel zu jung war. Zweitens nahm es mir Zeit zum Lesen weg. Und drittens: Was gingen mich diese Jacken und Strümpfe an? Soweit ich sehen konnte, mußte ich wohl oder übel vier Stunden täglich an dieser Maschine verbringen, umgeben von Dreck und Lärm, und mein Bestes geben, um mein Soll zu erfüllen und keinerlei Strafen auf mich zu ziehen. In meinem Leben gab es zu wenig Freuden, als daß ich es mir leisten konnte, sie mir durch Strafen entziehen zu lassen. Also biß ich die Zähne zusammen und arbeitete. Um uns herum standen die üblichen Sprüche, zum Beispiel: „In unserem Land ist Arbeit eine Frage der Ehre, des Mutes und des Heldentums!“ Und obwohl ich selber nie etwas anderes erlebte als Erschöpfung, traute ich den Parolen mehr als mir selbst; ich dachte, es gäbe da etwas, was ich wahrscheinlich nicht verstand, daß ich noch zu klein war und es nur deshalb alles so schwer fand. Wenn ich erst mal groß bin, dann wird auch für mich die Arbeit zu einer „Frage der Ehre, des Mutes und des Heldentums“. Aus Büchern und Filmen lernte ich, daß Arbeit in unserem Land nicht länger Zwangsarbeit war; Arbeit war frei und großartig. Wie beeindruckend und fröhlich arbeiteten doch die Menschen auf den Kolchosen im Film Die reiche Brücke und Die Traktorfahrer! Sie machten Musik, sangen und tanzten... Wir alle kannten diese Lieder. Und erst die Grubenarbeiter! Ihre Arbeit war doch nun wirklich viel schwerer als unsere — aber schau dir ihre Begeisterung an, schau, wie sie zur Arbeit gingen mit einem Lied auf den Lippen und keine Müdigkeit kannten! Wir sahen all das in dem Film Das große Leben. Arbeit war im Film fast ständig begleitet von fröhlichem Gesang — nur ich, ich wollte beim Arbeiten nicht einmal Lieder hören, geschweige selber singen. Daß ich die Schönheit der Arbeit nicht verstand, erfüllte mich mit einem nagenden Gefühl der Unzulänglichkeit.

Nach dem Waisenhaus gingen viele von uns als Lehrlinge und Arbeiter in die Textilfabriken von Orekhowo-Sujewo. Einmal brachte man uns vorher zu einem Besuch in die Pjotr-Moissenko-Fabrik, um uns den gesamten Arbeitsprozeß zu zeigen, von der Baumwolle zum Garn und vom Garn bis zum Tuch. Das hat immer etwas Spannendes: ein riesiger Berg Material, in diesem Fall Baumwolle, kommt am Ende des Prozesses heraus als viele kleine nützliche Dinge. Und natürlich waren auch unsere Jacken und Strümpfe aus diesem Garn...

Die Fabrik war riesig. Man brachte uns zu dem Ort, wo der Arbeitsprozeß begann. Die Hallen waren groß, und von irgendwo hoch oben, wo die Lastwagen entladen wurden, schütteten sich gewaltige Massen von Baumwolle herab. Alles wurde von Hand gemacht, und der Staub war so dicht, daß ich Angst hatte, mich zu verirren. Von hier aus wurde die Baumwolle durch Kämmvorrichtungen geleitet, „Bankobroshny“-Maschinen, ein Wort, das sich mir bis heute eingeprägt hat. Nadeschda Mandelstam hat uns erzählt, wie sie nach dem Tod ihres Mannes an solchen Maschinen arbeitete. Der Lärm war ungeheuerlich; selbst wenn jemand aus Leibeskräften schrie, hörte ihn keiner. Überall in der Fabrik war es das gleiche: Schmutz, Staub, Lärm und dazu die erschöpften Gesichter der Arbeiter... Ich war hierüber mehr als erstaunt, ich war entsetzt. Ich konnte nicht glauben, daß Menschen an Orten wie diesen arbeiten mußten, und die Filme und Bücher hatten mich auf diesen schrecklichen Anblick ganz und gar nicht vorbereitet. Obwohl ich noch ein Kind war, fühlte ich den ganzen Schrecken: wie großartig Arbeit angeblich war und wie schrecklich in Wirklichkeit. Mit dem „leuchtenden Weg“ hatte sie nichts zu tun.

Hier passierte es zum ersten Mal, daß die Wirklichkeit in Widerspruch zu den Worten geriet, an die ich geglaubt hatte. Als Erwachsener endete ich nach vielen Jahren harter Zwangsarbeit, in der kein Gran Ehre, Mut oder Heroismus gesteckt hatte, in einem „Besserungslager“. Dort grüßte mich eine neue Parole: „Durch Arbeit zur Freiheit“. Hatte es nicht in Auschwitz einen ähnlichen Satz gegeben?

Inzwischen aber glaubte ich nicht mehr an Parolen und empfand sie nur noch als Hohn, als Hohn auf uns alle. Welche Freiheit? Die einzige Freiheit war, schließlich an Erschöpfung zu sterben — das war der einzige Weg, auf dem man der Arbeit, dem Lager und dem Sowjetregime selbst entkam.

Obwohl ich vierzig Jahre lang gearbeitet habe, hat mich nichts mehr von meinem ursprünglichen, kindlichen Glauben abbringen können, nämlich daß körperliche Arbeit nichts anderes ist als unangenehm und entwürdigend.