Aus der Verantwortung gestohlen

■ Der DGB ist verantwortlich für die Schließung der 'Tribüne‘

Die 'Tribüne‘ ist eine im schlechten Sinne gewendete Zeitung. Sie hat sich, ohne das Personal auszuwechseln, nach dem 9.November 89 schnell auf die neuen Machtverhältnisse eingestellt: vom Sprachrohr des mächtigen und korrupten FDGB-Bosses Harry Tisch zum braven Gewerkschaftsblatt nach westlichem Muster. Das Blatt bemüht sich redlich und mit sinkender Auflage, die Bevölkerung in der ehemaligen DDR auf ihrem dornenreichen Weg in die Marktwirtschaft zu begleiten. Es bietet viel Betroffenheit aus Betrieben, viel Lebenshilfe für die zwischen Hoffen und Bangen schwankenden Menschen, die weder über das westliche Arbeits- und Mietrecht noch über Ratenzahlungstricks oder über die Fallstricke des Versicherungsgewerbes Bescheid wissen. Die Berichterstattung über Politik und Kultur ist dürftig, entsprechend wenig wird die 'Tribüne‘ in der Zeitungsbranche wahrgenommen.

Trotz dieser relativen Bedeutungs- und Belanglosigkeit der Zeitung ist das, was jetzt mit ihr gemacht wird, politisch verantwortungslos. Denn es hat keinerlei Auseinandersetzung über Vergangenheit und mögliche Zukunft des Blattes stattgefunden, weder in der Verlagsleitung noch bei denjenigen innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die über maßgeblichen Einfluß darüber verfügen, was mit den Überresten des in Liquidation befindlichen FDGB geschieht. Der Schließung der 'Tribüne‘ liegt das verschwiegene Kalkül bürokratischer Kulissenschieber zugrunde, die sich nicht in die Karten gucken lassen wollen. Sie wollen mit dem FDGB nichts zu tun haben, schicken aber zur Wahrung ihrer Interessen ihre Vertrauensleute in die Vermögensverwertungsgesellschaft, die die materiellen Hinterlassenschaften des FDGB verwaltet. Es ist diese Unehrlichkeit, die empört.

Die politische Legitimation der 'Tribüne‘, als Medium in Gesamtdeutschland zu agieren, ist nicht größer und nicht geringer als das jeder anderen eilig gewendeten Zeitung in der ehemaligen DDR. Es konnte nicht darum gehen, die 'Tribüne‘ zur Tageszeitung des DGB zu machen. Der hat seine verlegerische Unfähigkeit oft genug bewiesen und sollte der Öffentlichkeit jeden weiteren Versuch ersparen. Es wäre darum gegangen, über die nicht realisierten Möglichkeiten einer Zeitung zu diskutieren, die in einer Zeit radikalen gesellschaftlichen Umbruchs ihr besonderes Augenmerk auf die sozialen Probleme richtet. Wenn es Bedarf nach einer solchen Zeitung gibt, hätte auch ein politisch glaubwürdiges, ökonomisch tragfähiges Konzept unabhängig vom DGB entwickelt werden können. Martin Kempe