Kein Glasnost für Schwule

Homosexualität in der Sowjetunion noch immer verboten / Jugendbanden machen Jagd auf Schwule/ Öffentliche Meinung ist negativ  ■ Von Alan Cooperman

Moskau (ap) — Fünf Jahre Reformpolitik und eine zunehmende Öffnung gegenüber dem Westen unter Gorbatschow haben in der Sowjetunion nichts daran geändert, daß Homosexualität nach wie vor gesetzlich verboten ist. Freie Religionsausübung, ungehinderte politische Meinungsäußerung, Glückspiel und Pornographie — alles ehemals schwerwiegende Gesetzesverstöße — erleben in der Ära von Glasnost und Perestroika einen wahren Boom. Homosexualität dagegen ist eines der letzten Tabus in der UdSSR.

Zaghafte Versuche von Schwulen und Lesben, sich zu organisieren, werden von der Presse mit Beiträgen kommentiert, deren Sprache an längst überstanden geglaubte Zeiten erinnert. Im vergangenen Jahr haben eine Handvoll Homosexueller eine Bewegung ins Leben gerufen, um die Aufhebung der sie kriminalisierenden Gesetze zu erreichen. Mit westlicher Unterstützung haben sie die erste Schwulenzeitung in der UdSSR gegründet.

Doch Dimitri, ein 33jähriger homosexueller Wissenschaftler, glaubt, daß es wohl nie eine Schwulenbewegung in der UdSSR geben wird. „Ich bin absolut sicher, falls zu einer Kundgebung aufgerufen würde, kämen nur wenige Leute. Ich selbst würde auch nicht teilnehmen. Sie würden uns fotografieren und das könnte zu Problemen bei der Arbeit führen. Vielleicht würde man sogar gefeuert.“

Treffpunkt der Moskauer Homosexuellen ist an Sommerabenden der Platz vor dem Bolschoi-Theater. Wenn das Wetter schlechter wird, treffen sie sich eine Straße weiter im Sadko-Cafe. Das rustikal eingerichtete Lokal hat mehr Charme als die meisten anderen Gaststätten der Hauptstadt und bietet seinen Gästen vor allem eins: Ungestörtheit.

Doch die „Golubje“ (die Hellblauen), wie die Schwulen genannt werden, trauen sich oft nicht, das Cafe ohne Begleitung zu verlassen. „Man weiß nie, wer hinter der nächsten Ecke mit einer Vorliebe für Stockhiebe und Blut auf Dich wartet“, sagt der 24jährige Serescha. Schwule in Moskau wären häufig Opfer von Jugendbanden, die sich einen Spaß daraus machten, Homosexuelle zu verprügeln. Solche Angriffe werden nur selten der Polizei gemeldet, weil die Opfer keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen.

In Moskau heißt es, in der Neun- Millionen-Stadt gebe es weniger als 250 Menschen, die sich offen zur Homosexualität bekennen. Außerhalb der Hauptstadt sind die Bedingungen für Schwule und Lesben häufig noch schlechter. „Sie haben keinen Platz, wo sie sich treffen können und keinen Ort, an dem sie sich verstecken können“, sagt Dimitri.

„Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß Homosexualität in der Sowjetunion weniger verbreitet ist als irgendwo sonst auf der Welt. Sie ist hier lediglich weniger akzeptiert“, meint Wladimir Schachidschanjan, Autor des Buches „1.001 Fragen über DAS“. Homosexuelle in der UdSSR sind nach seiner Ansicht „rundherum unglückliche“ Menschen. Aus vielen Briefen wisse er, daß die Toleranz für Homosexualität zu Beginn der 80er Jahre größer geworden sei, doch „dann kam Aids“. Offiziell gibt es in der UdSSR derzeit 565 Menschen, darunter 74 Homosexuelle, die mit dem HIV-Virus infiziert sind. Der Virus wird nach Angaben der Ärztin Irina Jeremowa hauptsächlich bei heterosexuellem Verkehr und infolge von Fehlern im medizinischen Bereich übertragen. In der Öffentlichkeit werden aber häufig die Homosexuellen für die Ausbreitung der Seuche verantwortlich gemacht.

Strafrechtlich verfolgt wurden in den vergangenen Jahren nur wenige Schwule. Wenn es Prozesse gegeben habe, dann nur in kleineren Städten, berichten Betroffene. Das Gesetz, das Homosexualität unter Strafe stellt, stammt aus dem Jahre 1930 und ist in der UdSSR früher oft für politische Zwecke eingesetzt worden. So wurde der armenische Regimekritiker und Filmemacher Sergej Paradschanow 1972 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil er gegen das Homosexualitätsverbot verstoßen haben soll.

Die im vergangenen Jahr in Moskau gegründete Vereinigung für sexuelle Minderheiten bringt unter anderem die Zeitschrift 'Tema‘ heraus. Die Organisation verfügt über keine Mitgliedskartei, um die Homosexuellen vor einer möglichen Verfolgung zu schützen. An den regelmäßigen Treffen der Gruppe nehmen nicht mehr als zwischen 20 und 25 Menschen teil.

Die amtliche Nachrichtenagentur 'Tass‘ beschuldigte die Vereinigung im November in einem Artikel, nicht nur „primitive“ Homosexuelle, sondern auch „perverse“ Mitglieder in ihren Reihen zu haben. So gebe 'Tema‘ etwa den Lesern eine Antwort auf die Frage, wieviel es koste, Sex mit einem Kind zu treiben. Roman Kalinin, der Herausgeber von 'Tema‘: „Der 'Tass‘-Beitrag ist sehr schmutzig, die wußten genau, daß sie die Unwahrheit schreiben.“

An materieller Hilfe aus dem Westen hat die Vereinigung bisher Schreibmaschinen, kleinere Geldbeträge und etwa 7.000 Kondome erhalten. Für Sommer 1991 ist eine internationale Kundgebung von Homosexuellen auf dem Roten Platz in Moskau geplant.