Pharma-Lobby kippt Ost-Pillenpreise

■ Die Regelung im Einigungsvertrag wird durch einen billigeren Kompromiß ersetzt/ Blüm erleichtert über Aufhebung des Lieferstopps für Medikamente/ Opposition geißelt Kniefall vor der Industrie

Bonn (taz) — „Wir sind wirklich keine Bananenrepublik, sondern ein Rechtsstaat“, verkündete Sozialminister Norbert Blüm gestern erleichert in Bonn. Der Grund für seine Begeisterung war ein Kompromiß mit der Pharmaindustrie zur Finanzierung von Medikamenten in Ostdeutschland, woraufhin die Firmen versprachen, ihren bisherigen Lieferboykott zu beenden. Anstelle des 55prozentigen Preisabschlages beim Verkauf westdeutscher Medikamente im Osten sollen Pharmaindustrie, Großhandel und Apotheken künftig einen Teil des Minus der Krankenkassen ausgleichen. Vom 1. April 91 bis zum 31. März 92 müssen sie das voraussichtliche Minus bis zu 500 Millionen voll bezahlen und alles, was darüber liegt, zur Hälfte. Im zweiten Jahr ist ein hundertprozentiger Ausgleich bis zu einer Milliarde und im dritten Jahr bis zu 700 Millionen vorgesehen.

Nach übereinstimmender Expertenmeinung kommen die Pharmakonzerne mit dieser Regelung wesentlich billiger weg als mit der ursprünglichen Formulierung im Einigungsvertrag. Die sieht vor, den Preisabschlag an die jeweilige Lohnhöhe in den neuen im Vergleich zu den alten Bundesländern zu koppeln. Entsprechend der Lohnentwicklung sollten die Preise dann sukzessive angeglichen werden. Damit wäre die Pharmaindustrie in ihrer Preisgestaltung auf unabsehbare Zeit an die Wirtschaftsentwicklung in der Ex- DDR gekoppelt gewesen.

Der gestern vereinbarte Kompromiß soll, so Blüm, als Gesetz aber „nicht vor April“ in Kraft treten. Bis dahin bleiben die Medikamente im Osten — wie im Einigungsvertrag mit der ehemaligen DDR festgeschrieben — um die Hälfte preiswerter als im Westen. Falls die Pharmaproduzenten ihren Lieferboykott doch nicht endgültig beenden sollten, werde es im April keine Neuregelung geben, drohte Blüm. Er berichtete außerdem, daß Finanzminister Waigel der gesetzlichen Krankenversicherung im Osten einen 600-Millionen-Kredit erlassen will, da ja auch die Renten und Arbeitslosenversicherung eine Anschubfinanzierung erhalten hätten.

Auf die Frage, wie Blüm verhindern wolle, daß die Pharmahersteller ihre Zwangszuschüsse zur Krankenversicherung durch erhöhte Medikamentenpreise finanzieren, sagte Blüm: „Ich setze auf die Marktwirtschaft.“ Mit anderen Worten, er weiß es auch nicht. Der Sozialexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Rudolf Dressler, warf Blüm vor, er habe mit diesem Kompromiß „eine Lösung zu Lasten der Steuerzahler“ akzeptiert. Er forderte eine völlige Neuordnung des Medikamentenmarktes in Deutschland. Ein unabhängiges Institut müsse eine Liste der verschreibungsfähigen Medikament erstellen. Die Preise sollten dann mit den Krankenkassen festgelegt werden. tst