Mit Fontane für das Grundgesetz

■ Günter Matthes, seit 1954 Lokalchef des 'Tagesspiegel‘, geht in den Ruhestand

Berlin. Bis vor kurzem, genauer gesagt bis zum 31. Dezember 1990, seinem siebzigsten Geburtstag, saß er im vierten Stock in der Potsdamer Straße89: Dort schrieb er, hinter sich das schmucklose Regal mit Fontane und Duden, vor sich — immer im Blickfeld durch die Scheibe — seine »Mannschaft«, täglich jene siebzig Zeilen »Von Tag zu Tag«, für die ihm der Regierende Bürgermeister jüngst die höchste Auszeichnung der Stadt Berlin, die Ernst-Reuter- Plakette, verliehen hat. Er hat sie gern genommen, obwohl ihm staatliche Reverenzen eher egal und Trubel um seine Person ansonsten eher zuwider sind. Mehr noch als des Regierenden Hymne auf den »unbestechlichen Journalisten« und die Ehrungen der öffentlich-rechtlichen Journaille hat ihn die Verbeugung eines honorigen Juristen gefreut, der ihn als »Naturtalent« der Jurisprudenz feierte. Das ging runter wie Öl — und paßt zu den Maximen des einstigen Jurastudenten und späteren Kolumnisten »-thes«: Grundgesetz, Grammatik, Distanz zur Macht.

Günter Matthes, seit 1954 Lokalchef des 'Tagesspiegel‘, ließ die Ehrungen pflichtbewußt über sich ergehen, auch wenn er sich zu diesem Zweck aus seinem gewohnten Glaskasten in der Redaktion herausbegeben mußte. Für einen Lokalchef eher ungewöhnlich, scheute er die Öffentlichkeit von Pressekonferenzen und Empfängen, wie er es auch ablehnte, in Beratergremien zu sitzen. Die Präsenz in der einen oder anderen Talkshow schien ihm schon das höchste der Gefühle, und dann auch nur, wenn es um die Sache ging: um Wahlergebnisse, Hausbesetzungen oder Verkehrspolitik. Was er zu sagen hatte, sagte er sowieso, ex cathedra. Als »-thes« war er fast jeden Tag im 'Tagesspiegel‘ präsent, und seine Kolumnen sind in der Berliner Presselandschaft vielleicht die letzten von unerschütterlich bildungsbürgerlichem Zuschnitt. Das Koordinatensystem seiner Randbemerkungen ist klar und berechenbar: stur im Verweis auf die Rechtslage, menschelnd in den Alltagsgeschichten, unerbittlich, wenn ein Genitiv zu setzen ist. Viele halten »-thes'« Federstriche regelrecht für einen »Glücksfall«, für das »liberale Aushängeschild« der Tante 'Tagesspiegel‘, die auf den vorderen Seiten Adenauer in der Westintegration rechts überholte. Ob Regierende, Parteimitglieder, Honoratioren oder Otto Normalbürger, wenn sie seiner Meinung nach der Hafer stach, dann mußte der gebürtige Sachse und Gesinnungs-Berliner »seine« Berliner ans Händchen nehmen und sie bisweilen ziemlich unsanft wieder auf den Pfad der bürgerlichen Tugend führen. Als der ehemalige Innensenator Kewenig anläßlich der IWF-Tagung 1988 meinte, die Freiheit der Presse beschneiden zu müssen, wetzte »-thes« ebenso seine Feder wie er zeilenweise den Kopf schüttelte über »jugendliche Randalierer«, denen man noch nicht erzählt habe, in welcher freiheitlichen Grundordnung sie eigentlich lebten. So umstritten seine Kommentare teilweise nach außen waren, so unbestritten war seine Autorität als Lokalchef nach innen. Er »liebte« seine »Pennäler-Mannschaft«, die Lokalredaktion — und diese Gefühlsäußerung mag einen schon verwundern bei seiner gewohnten Distanz. Er schätzte sie so sehr, daß er sie nicht aus den Augen ließ. Fürsorgepflicht: keine Überschrift, kein Foto, keine Glosse, die nicht auf dem Tisch des Chefs landete, bevor sie in den Satz ging.

Als er die Ernst-Reuter-Plakette entgegennahm, zupfte er im Blitzlichtgewitter einen kleinen Moment lang an seiner Kravatte. »Typisch«, entfuhr es einem langjährigen Kollegen, »eigentlich ist er sehr schüchtern.« Was man seinen »Rändern« nie angemerkt hat. »-thes« nimmt den Hut, die Feder schwingt er weiter, sonntäglich, wie zu lesen war. Nana Brink