: Hoffnung auf Freiheit
Eine Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit Ungarns, autobiographisch gefaßt: Márta Mészáros' vollständige „Tagebuch“-Trilogie in der ARD ■ Von Manfred Riepe
Die 1931 geborene Autorenfilmerin Márta Mészáros gilt als die bedeutendste Regisseurin Ungarns. Seit ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm 1967 wendet sie sich mit sympathischer Beharrlichkeit dem Leben der Frau zu: „Die werktätige Frau von heute: Liebe, Arbeit, Einsamkeit, das ist die Welt von Márta Mészáros“, schrieb der Filmhistoriker Istvan Nemeskürty in seiner Geschichte des ungarischen Films.
In kontinuierlicher Folge hat sie inzwischen 14 Filme gedreht, mit denen sie viel dazu beigetragen hat, das Klischee von der weiblichen Sentimentalität zu durchbrechen. In Filmen wie Ganz wie zu Hause (1978), Unterwegs (1979), Die Erbschaft (1980) oder Geliebte Anna (1981) stellt Mészáros die sensible und unprätentiöse Darstellung der Gefühlswelt der Frau auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis zumeist in Zusammenhang mit dem Erbe der jüngsten ungarischen Geschichte dar. Durch die souveräne Darstellung der Hauptrollen umgeht sie geschickt die Klippen der Rührseligkeit.
Mit ihrer autobiographischen Tagebuch-Trilogie, die heute mit Tagebuch für meine Kinder von 1982 startet, vollzieht sie eine persönliche Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit Ungarns.
Als die 15jährige Waise Juli (Zusza Czinkoczi) 1947 aus dem russischen Exil zurück nach Ungarn kommt, merkt sie schnell, daß die euphorische Aufbruchstimmung des sozialistischen Staates im krassen Gegensatz zu privaten Schicksalen, Intrigen und Verhaftungen steht. Die dementsprechend gegensätzlichen persönlichen Beziehungen zu ihrer Pflegemutter (Anna Polony), einer engagierten Parteifunktionärin, die das eigenwillige Mädchen hartnäckig für ihre politischen Pläne zu begeistern versucht, und ihrem väterlichen Freund Janos (Jan Nowicki), einem kompromißlosen Patrioten mit hohen moralischen Prinzipien, stehen auch im Zentrum der 1986 gedrehten Fortsetzung Tagebuch für meine Lieben (am 21.Januar).
Weil Filmregie nicht als Frauenberuf gilt, wird Juli bei der Aufnameprüfung an der staalichen ungarischen Filmhochschule verlacht. Um ihren Berufstraum zu verwirklichen, muß sie abermals ins russische Exil, ans Moskauer Filminstitut VGIK, zu dieser Zeit eine der führenden Filmschulen der Welt, an der unter anderem Eisenstein und Pudowkin lehrten. Die Freundschaft zu ihrer Lehrerin, einer berühmten und einflußreichen russischen Schauspielerin, ebnet ihr manchen Weg, konfrontiert sie jedoch mit dem Problem, ob sie von dem System der Privilegien und der Elite profitieren soll.
Der abschließende Teil Tagebuch für meine Eltern (am 4.Februar) ist dem Schicksal Janos' gewidmet, der kurz vor dem Ungarn-Aufstand 1956 nach längerer Haftstrafe wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ freikommt. Dokumentarische Einblendungen zeigen den Fall einer ehernen Stalin-Statue. Eine unbändige Hoffnung auf Freiheit bricht hervor, die auch Janos neuen Mut verleiht. Bis er während einer Gerichtsverhandlung nach der Niederschlagung den Richtern voller Verzweifelung das ganze Register seiner „staatsfeinlichen Aktivitäten“ entgegenschreit, worauf er hingerichtet wird.
Trotz bitterer Akzente erzeugt Márta Mészáros immer wieder eine Atmosphäre voller Kraft und Leben. Ihre Trilogie ist kein sperrig-depressiver Bewältigungsversuch, sondern ein komplexes Filmwerk, dessen unaufdringlicher, flüssiger visueller Stil in epischer Breite von einer Fülle von Personen und Schicksalen erzählt und dabei ein eindringliches Zeitbild entwirft.
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