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Ein stilles Begräbnis

■ Der Politik-Unterricht wird an den Schulen in NRW immer mehr zurückgedrängt

Noch vor einigen Jahren war das Fach Politik das ausgesuchte Lieblingskind und Vorzeigeobjekt sozialdemokratischer Bildungspolitikerinnen und -politiker — gerade in Nordrhein-Westfalen. Aus dem Land an Rhein und Ruhr gingen vor allem zu Beginn der siebziger Jahre die wesentlichen bildungspolitischen Impulse für die ganze Republik aus. Nordrhein- Westfalen führte auch konsequent als erstes Bundesland die bis heute ideologisch heftig umkämpfte Gesamtschule als Regelschule ein. Auch den Politikunterricht begriff man in Nordrhein-Westfalen schon immer anders als etwa im traditionell wertkonservativen Baden-Württemberg oder gar in Bayern.

Während dort vor allem Benimmregeln, Körperpflege und die Vermittlung staatsbürgerlicher Pflichten auf dem Lehrplan standen, wollte der sozialwissenschaftlich geprägte Unterricht in Nordrhein-Westfalen Schülern die Möglichkeit geben, gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen zu hinterfragen und sich aus emanzipatorischem Selbstverständnis zum eigenständigen Charakter zu entwickeln.

Was einst so schön und idealistisch begann, wird augenblicklich systematisch dem Untergang entgegengetrieben: Politik und Sozialwissenschaften liegen heute mit einem Stundenausfall von 9,2 Prozent an den Gymnasien des Landes und 6,2 Prozent an den Real- und Gesamtschulen einsam an der Spitze der Mangelfachstatistik in Nordrhein- Westfalen. Vom überhaupt noch stattfindenden Unterricht wird an den Gymnasien 34,4 Prozent von Lehrern erteilt, die gar keine Lehrbefähigung für dieses Fach haben. An den Hauptschulen beträgt dieser Prozentsatz 42,7 Prozent, an den Realschulen 67,5 Prozent und an den Gesamtschulen sogar 75,7 Prozent. Der fachfremd erteilte Unterricht zieht Reaktionen auf Schülerseite nach sich: Immer weniger Jungen und Mädchen wählen das Fach, das immer häufiger ausfällt und dessen Lehrer oft nur mangelhafte Fachkenntnis nachweisen können. Die Schulleiter melden deshalb bei den zuständigen Dezernaten der Regierungspräsidien kaum noch neuen Bedarf an, Fortbildungsveranstaltungen werden gestrichen.

So ist für das Düsseldorfer Kultusministerium auch nur konsequent, daß im Ministererlaß vom 25. Oktober 1990, veröffentlicht im Amtsblatt vom 15. November, zum kommenden Schuljahr 1991/92 ein De- facto-Einstellungsstopp an allen nordrhein-westfälischen Schulen für Lehrerinnen und Lehrer mit Lehrbefähigung für die Fächer Politik und Sozialwissenschaften bekanntgegeben wurde. Nur in einigen exotischen Fächerkombinationen besteht für diese Pädagoginnen und Pädagogen noch eine vage Chance, in den Staatsdienst übernommen zu werden.

Gegen die Entscheidung von Kultusminister Hans Schwier läuft nicht nur die Deutsche Vereinigung für politische Bildung (DVpB), ein Zusammenschluß von sozialwissenschaftlich ausgebildeten Politiklehrerinnen und -lehrern aus Schulen, Universitäten und Fortbildungseinrichtungen, Sturm. DVpB-Grundsatzreferent Joachim von Olberg spricht von einem stillen Begräbnis der politischen Bildung an den Schulen Nordrhein-Westfalens: „Die Zeichen der Zeit stehen günstig für ein Zurückdrängen des Politikunterrichts: Man läßt einfach die gute Infrastruktur, die früher aufgebaut wurde, verkommen.“ In der SPD- Landtagsfraktion mehren sich die Stimmen gegen Schwier, über eine Fusion des Kultus- mit dem Wissenschaftsministerium wird offen nachgedacht.

In ihrer kleinen Anfrage Nr. 361 forderte die grüne Abgeordnete Brigitte Schumann die Landesregierung jetzt auf, dem Parlament zu erklären, warum das Fach Politik trotz des evidenten fachspezifischen Mangels im Einstellungserlaß unberücksichtigt blieb und wie sich Ministerpräsident Johannes Rau und sein Kabinett das offensichtliche Mißverhältnis zwischen den wachsenden Anforderungen an das Fach Politik und der Situation der Politiklehrerinnen und -lehrer erklären: „Warum wird der Erlaß, der vorsieht, daß LehrerInnen mit der Qualifikation Sozialwissenschaften vorzugsweise im Fach Politik einzusetzen sind, in der Praxis offensichtlich unterlaufen?“

Eine mögliche Antwort gibt ein Brief, den die DVpB auf ihre Beschwerde hin aus dem Düsseldorfer Kultusminsterium erhielt: „Verfügbare Einstellungskontingente müssen vorerst zur Verbesserung der Unterrichtsversorgung in stark nachgefragten Schulfächern verwendet werden.“ Für DVpB-Sprecher Joachim von Olberg schließt sich hier der Kreis der Argumentationen: „Politische Bildung hat in Nordrhein-Westfalen keine gesellschaftliche Lobby mehr.“ Stefan Koldehoff

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