: Kurz vorm Knall
Willem Breukers 15. „Klap Op De Vuurpijl“ in Amsterdam ■ Von Andreas Becker
In den Niederlanden gibt es nicht viele Jazzfestivals, dafür aber recht ausgefallene. Das North-Sea- Festival verwandelt jährlich das sommerliche Den Haag in eine Leistungsshow der vielen Bands, großen Namen und Zuschauermassen — eine Art Grüne Woche der Jazzgladiatoren. In der heimlichen Hauptstadt Amsterdam begnügt man sich dagegen seit fünfzehn Jahren damit, am Jahresende ordentlich auf den Putz zu hauen. Der „Klap op de vuurpijl“ — übersetzt in etwa: der Moment an dem die Rakete am Himmel explodiert, der Höhepunkt des Genusses kurz vorm Absturz — ist das Festival der kleinen Dimensionen.
In der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, während der Amsterdam von Touristen aus ganz Europa, besonders aus Italien, England und Deutschland heimgesucht wird, die sich mit schlechtem Stoff und Thailadies zu vergnügen suchen, ist das Angebot für Kulturjunkies recht mager. In diese offensichtliche Marktlücke stößt das Unternehmen des Saxophonisten, Komponisten, Arrangeurs, Bandleaders und nebenbei auch noch Konzertorganisators Willem Breuker. Der Chef und oberste Spaßvogel des nach ihm benannten „Kollektiefs“ bastelt seinen Klap op de Vuurpijl rund um seine eigene Band herum. Das hat für das Kollektief den Vorteil nach wechselnden „Vorgruppen“ an allen Tagen vor meist ausverkauftem Haus den Konzertabend beschließen zu dürfen. Durch die Einnahmen gelingt es Breuker, sein immerhin zwölfköpfiges Orchester bei Brot und Laune zu halten, was für eine Band dieser Größenordnung heutzutage ohne öffentlichen oder privaten Sponsor schon fast als unmöglich gilt.
Neben Breukers Orchester spielen an jedem Abend verschiedene Musiker und Bands der Fachbereiche Neue Musik, Improvisation und Jazz. Die ungewöhnliche programmatische Mischung (zwischen E- und U-Musik, würde man im deutschen Radio einfügen) beginnt beim Amsterdams Blazers Collektief, das in Kompaniestärke die Bühne füllt um Paul Hindemiths Symphony in B Flat, 1951 geschrieben für ein beinahe hundertköpfiges US-Army- Blasorchester, nahezu originalgetreu aufführen zu können. Das Publikum ist angetan.
„In diesem Jahr war der Silvesterabend des Klaps bereits nach einer Viertelstunde restlos ausverkauft“ berichtet mir Piet Hein van de Poel, technischer Leiter der Konzertreihe. Einnehmend lächelnd zeigt er mir seine „Nervenzentrale“ in den verwinkelten Katakomben unter dem Bellevue Theater, nachdem er mich an aufgerollten und an der Wand aufgehängten roten Feuerwehrschläuchen, grünen Notausgangspfeilen und Künstlergarderoben vorbeigeführt hat. „Wir haben hier fast so ein Chaos wie beim North-Sea-Festival, nur im kleineren Rahmen“ versichert er, während eine seiner Mitarbeiterinnen fleißig Programmzettel für das abendliche Konzert faltet. Breuker selbst hat keine Zeit für ein Interview. „Wir sehen uns dann noch“ ruft er schon unterwegs zur Lagebesprechung mit seinen Kollektivisten im angrenzenden Theatercafé „De Smoeshaan“, wo vor, nach, und während der Konzerte die Akteure an der Theke verschnaufen.
So auch John Surman, der einen Soloauftritt beim Klap absolviert. Der britische Saxophonist begibt sich dabei in Zwiesprache mit technischem Gerät in Form von computergesteurten Sound-Sampling- und Delay-Geräten. Teils birgt diese Technik faszinierende Möglichkeiten der Kommunikation mit sich selbt beim Solo mit verfremdeten und verzögerten Tönen, die man vor Sekunden gspeichert hat. Es besteht aber auch die Gefahr, sich den technischen Schemata zu sehr zu unterwerfen und einer unterkühlten Starre zu erliegen. John Surman kämpft wacker mit der Technik und gewinnt an diesem Abend die meisten Partien gegen den Computer. Zwischendrin erzählt er eine Anekdote, über die das holländische Publikum zu seinem Erstaunen nicht lachen kann: Er hatte für ein Konzert in Finnland einen Yamaha angefordert. Als er dann dort ankam, hatte man ihm pflichtgetreu ein Motorrad auf die Bühne gestellt. Eigentlich hatte er an einen Synthesizer gedacht.
Witzige Geschichten scheint man hier eher vom Willem Breuker Kollektief selbst zu erwarten. An den letzten beiden Abenden bis Silvester tritt das Kollektief mit einem veränderten Programm und mit Gastsolisten sowie den Streichern der „Mondriaan Strings“ im Bellevue auf. Man beginnt mit mehreren Kompositionen von Kurt Weill. Der Silbersee von 1932/33 und die Filmmusik Royal Palace (1926) in einem Arrangement von Bernard Hunneking, werden zu orchestralen Jazzphantasien mit vuluminösen Big-Band-Bläsersätzen. Es folgen vier im Exil und nach dem Krieg verfaßte Walt Whitman-Songs von Weill. „Oh Captain, My Captain“ klagt die Sopranistin Karstien Hovingh als Gast des Kollektiefs emphatisch. Man erinnert sich an Nino Rotas Filmmusiken, die Carla Bley so dicht vertonte, daß man noch heute die Grautöne von Filmen wie 8 1/2 beim Hören der Musik zu sehen meint. Breuker betätigt sich mittlerweile auch als Komponist von Filmmusik und vertonte die Baal (Brecht) Ballettaufführung der renomierten Amsterdamer Tanzgruppe Toneelgroep.
Auch wenn der Gesang von Karstien Hovingh und die Instrumentierung der Weill-Titel durch ihre Ausgefallenheit faszinieren, wünscht man sich nach den ernsten Kompositionen das Breuker Kollektief, wie das Publikum es fürchten und lieben gelernt hat in den langen Jahren seiner Existenz: wild, ausgelassen und immer zu einem Späßchen aufgelegt.
Diesem Bedürfnis der Stammkundschaft des Klaps trägt Breukers Kollektief im zweiten Teil des Auftritts Rechnung. Man hat die in Holland hoch geschätzte, in Deutschland leider (bis auf einen exklusiven Auftritt beim Jazz Fest 89) fast unbekannte Vokalartistin Greetje Bijma eingeladen. Im Duo mit Breuker, der ein Klarinettensolo improvisiert flirtet Bijma mit den Tonleitern, wechselt flinker vom Falsett zum Bariton als Breuker blasen könnte, gackert plötzlich wie hundert Hühner, plustert sich auf, schwingt ihren gelben Mantel über die Bretter, springt, juchzt und kräht, stampft mit den Füßen auf.
Breuker spielt den unbeteiligten Clown, verläßt die Bühne mit Lappen und Bürste zum demütigen Akt fürs Publikum. Er putzt den Damen und Herren in Abendgarderobe erst einmal ordentlich die Schuhe. Sein Orchester stellt ebenfalls die musikalische Produktion vorrübergehend ein, man unterhält sich angeregt, Heineken-Dosen werden herumgereicht. Während all dieser inszenierten Lustigkeit, die ihren Charme gerade wegen ihrer offensichtlichen Schlichtheit auch nach Jahren scheinbar nicht einbüßt, muß die Bijma weiter singen, als lauschten alle ihr konzentriert. Breuker steigt zurück aufs Podium, beginnt gottvoll „I gave all my love to you — huhuhu“ zu singen, bis sich seine Stimme endlich in den höchsten Lagen überschlägt und er Gretje Bijma auf dem Höhepunkt — ganz im Sinne des Auftrages „klap op de vuurpijl“ — in die Arme sinkt.
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